Episode 8 - Des Teufels Finger I - Lügengespinst
Kapitel 3
Piemont, Auf dem Schlachtfeld bei Savigliano im Juli 1557
Fausto’s Sinne erwachten und er spürte Blut aus seinem Leib sickern. Doch die Kraft, die Augen zu öffnen, fand er nicht. Kaltes beengte ihn furchteinflößend. Ein rasender Schmerz in seiner Brust verwehrte ihm den Atem, mit dem er nach seinem großen Bruder rufen wollte. Lähmende Todesangst zerrte ihn zurück in eine Ohnmacht, weswegen die glühenden Hände, die nach ihm fassten, nur noch sein Unterbewusstsein erreichten.
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Als Lauro sein Bewusstsein wiederlangte, fand er sich in Ketten gelegt am Rande des Schlachtfeldes, das mit verwundeten oder toten Menschen und Pferdekadavern übersät war. Mit dem Geruch von Blut und Eingeweiden in der Nase, drang Stöhnen von Sterbenden und Verletzten in seine Ohren, das hässlichstes Gebrumme abertausender Schmeißfliegen schaurig untermalte.
Er begann, sich zu bewegen. Erleichtert stellte er fest, dass er, außer einem stechenden Schmerz in seinem Rücken, anscheinend unverletzt war. Um sicherzugehen, der Rückenschmerz rühre nur von einem Schlag und nicht von einer Verwundung her, wälzte er sich auf die Seite: Nein, kein Blut floss aus seinem Körper. Man hatte ihn tatsächlich nur bewusstlos geschlagen.
„Fausto!!“ Mit der vollen Rückkehr seiner Wahrnehmung schoss ihm der Name des kleinen Bruders blitzartig durch den Kopf. Wo war er? Wieder sah er ihn fallen. War er tot? War er verletzt? Wo nur, wo… Panisch suchten Lauros aufgerissene Augen die Umgebung ab. Dabei versuchte er, sich an die Kleidung des kleinen Bruders zu erinnern. Vielleicht erkannte er diese an den vielen Leibern, die um ihn lagen!!
Lauro entdeckte nichts, woraus er auf Fausto hätte schließen können. Aber plötzlich vernahm er seinen Namen in einem Flüstern. „Lauro, zum Glück, du lebst!“
So entdeckte er Vicenzo, unweit, der sich, gleich ihm in Ketten gelegt, mühsam aufrichtete.
„Ja, Vicenzo“, hauchte Lauro zurück. „Aber Fausto? Hast du ihn gesehen? Ich sah ihn fallen, getroffen von einem Schwert, bevor es dunkel um mich wurde. Oh, mein Gott!“
Schmerzvoll blickte er zu seinem Freund, der ebenso unverletzt schien.
„Ich weiß es nicht, Lauro.“ Vicenzo stöhnte schwer. „Auch ich sah ihn fallen. Dich sah ich vom Pferd stürzen, gleichermaßen von einer Waffe getroffen, doch nicht durchbohrt. Eingeschlagen haben sie auf dich, wohl wie auf mich. Ich verlor mein Bewusstsein noch bevor ich mir merken konnte, wo Fausto niederging. Ich mühte mich so, mein Freund, doch umsonst. Es tut mir leid. Die Leiber der Toten liegen übereinander. Suchen müssten wir ihn…“ Verzweifelt schüttelte er die schweren Ketten an seinen Handgelenken.
Lauro meinte, die Welt um ihn bräche zusammen. Seine Sinne bäumten sich gegen den unfassbaren Gedanken, dass er ihn verloren haben sollte, seinen geliebten kleinen Bruder. Dass er tot war. Sein Leben von dieser Welt unwiederbringlich ausgelöscht.
In bloßer Selbsterhaltung versteinerte er in diesem Augenblick, trotz des höhnischen Geschreies, das zeitgleich ertönte. „Los, hoch, ihr piemontesisches Gesindel!“
Die Schreie begleiteten durch die Luft zischende Peitschenhiebe, die Lauro und Vicenzo unerbittlich trafen.
Mühsam, in den schweren Ketten und unter der seelischen Last, erhoben sie sich mitsamt den anderen Gefangenen, die man zusammentrieb.
Pausenlos hingen währenddessen Vicenzos Blicke am unübersehbar in tiefe Apathie versinkenden Freund: „Zusammenbleiben! Lauro, wir müssen zusammenbleiben!!“
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„Korbinian, unser Pferdeknecht!“ Später, zu Vicenzos Überraschung, hob Lauro plötzlich seinen Kopf und man konnte sehen, dass ein Funken Hoffnung seinen Blick erhellte. Auf diese Weise entdeckte auch er den Montemano’schen Knecht, der während der Schlacht in ihrer Nähe gekämpft hatte. Zuerst vernahm er nur dessen dröhnendes Fluchen, doch dann sah er den Blondschopf leuchten.
Brutal schlugen die Soldaten soeben auf ihn ein, trotzdem blieb Korbinian wenig schuldig. Er teilte aus, was seine Ketten erlaubten, und allein seine hünenhafte Gestalt flößte dabei Respekt ein.
Nicht lange dauerte es, bis Korbinian seinen jungen Herrn und Vicenzo gleichsam bemerkte.
„Ich habe ihn erschlagen, den Hundesohn, dessen Schwert Eures Bruders Brust durchbohrte“, beantwortete Korbinian Lauros bange Frage, als sie sich zu dritt fanden. „Zerschmettert habe ich seinen französischen Schädel. Aber mehr weiß ich nicht. Sie rissen mich nieder, Ketten, die sich um meinen Hals schlangen, feige, von hinten. Diese Bastarde!“
Später, als man die Schar der ungefähr einhundert Gefangenen zusammengetrieben hatte, waren sie zu fünft. Auch Fabrizio und Maurizio, die beiden schmächtigen, kaum ausgewachsenen Cousins aus Raffana, Landarbeiter in Montemano‘s Diensten, hatten überlebt.
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Nachdem Marschall de Brissac sein verbliebenes Heer von immer noch einigen tausend Söldnern neu geordnet und aufgeteilt hatte, zwang man die Gefangenen im dreihundert Mann starken Gefolge eines Sergeant zum Marsch gen Osten.
Aneinandergekettet und besudelt von Schmutz und Blut hetzte man sie gleich Vieh unbarmherzig durch die Pianura[1]. Savigliano verschwand mehr und mehr aus ihren Blicken, ganz so, wie in ihrem Rücken die untergegangene Sonne hinter der Alpenkette am Horizont verschwunden war…
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Ohne Nahrung, kaum mit Wasser versorgt, schleppten sie sich nach einer im Freien auf der nackten Erde verbrachten Nacht unter gleißender Sonne weiter ostwärts. Kein Waldstück, das wenigstens zeitweise etwas Schatten spendete und die drückende Schwüle abmilderte, säumte ihren Weg. Einzig offene Felder, Wiesen und in der vor Hitze flimmernden Luft entsetzlichen Gestank verbreitende, zumeist leere Viehställe zogen an ihnen vorüber.
Ungeachtet der auf ihn einprasselnden Peitschenhiebe – Korbinian fluchte auch an diesem Tag ohne Unterlass. Ihn plagten, da er in seiner mächtigen Gestalt besonders schwitzte, unentwegt stechfreudige Mücken und Bremsen. Hilflos war er den blutrünstigen Insekten ausgeliefert. Seine Gegenwehr des Vortages bezahlte er nämlich damit, dass die Soldaten seine Ketten gekürzt hatten:
Die Beinfreiheit in kleine Schritte gedrosselt, waren die Hände am Bauch festgekettet. Kaum erreichte er seine Brust, geschweige denn den bereits zerstochenen Hals oder das Gesicht. Wollte er trinken, bedurfte er Hilfe, und derjenige, der sie ihm bot, bekam sie mit Peitschenhieben vergolten.
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In der zweiten Nacht pferchte man sie in einem niedrigen und wie üblich verwaisten Stall ein. Dessen Geruch und dem Viehmist nach zu urteilen, waren in ihm zuvor Ziegen gehalten worden. Das Vieh geplündert, schien die sorgende Hand des Bauern ebenso vertrieben oder gar abgeschlachtet. Jedenfalls war der Gestank schon im Freien kaum auszuhalten. Trotzdem ließ man die Gefangenen darinnen übernachten – als unsägliche zusätzliche Qual neben dem Hunger. Wiederum bestand ihre Verpflegung lediglich aus einem Kübel mit Wasser. Dieser ganzen Pein nicht genug, waren die Leiber der Gefangenen so eng aneinandergekettet, dass man, die Notdurft verrichtet, den Rest der Nacht in seinen eigenen oder in den Hinterlassenschaften des Nebenmannes hätte verbringen müssen. So reichte man sich wenigstens den Wasserkübel untereinander zu, nachdem er leergetrunken war.
Als sie tags darauf aus dem Stall getrieben wurden, stanken die Männer entsetzlich. Einziger Trost war es, dass ihre Peiniger unter dem penetranten Geruch reichlicher zu leiden hatten. Der Geruchssinn der Gefangenen war nämlich ausgelöscht. Dafür vergalten die Soldaten ihnen im Laufe dieses Tages die vom Gestank mehr und mehr verdorbene Laune mit Prügeln und Fußtritten.
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„Wo werden sie uns nur hinbringen, Lauro?“ Vicenzo flüsterte aus Angst, man könnte sie wieder trennen. Unter Mühen hatte er es in seiner übergroßen Sorge um den Freund bislang geschafft, neben ihm zu gehen, wann immer die Gefangenen für den Marsch aneinandergekettet wurden.
Teilnahmslos, mit gesenktem Kopf, schleppte sich Lauro neben ihm her. Er vermittelte den Eindruck, nichts mehr von dem wahrzunehmen, was um ihn herum geschah.
Umso aufmerksamer war Vicenzo:
Den Tànaro[2] hatten sie an einer passierbaren Stelle nahe des völlig zerstörten Ortes Cherasco durchquert. Nun wechselte ihre Marschrichtung gen Süden und man hielt sich am Ostufer des Flusses.
Ohne die französischen Aufpasser aus den Augen zu lassen, näherte sich Vicenzo vorsichtig Lauros Gesicht und suchte seine Blicke.
„Lauro, nicht!“, beschwor er kaum hörbar, als er gewahr wurde, dass Lauro lautlos weinte. „Nicht, mein Freund, nicht weinen! Jetzt heißt es nur, am Leben zu bleiben. Jeder Krieg geht eines Tages zu Ende.“
Er wusste um den schwachen Trost angesichts dessen, was sein Freund soeben durchlitt.
Wie gerne hätte er ihm deswegen zumindest innig die Hände gedrückt! Doch, schwere Eisenketten verwehrten es ihm.
„Allein, Vicenzo“, schluchzte Lauro zwischen seinen Tränen, „ganz allein musste er sterben. Hätte ich ihn wenigstens in meinen Armen halten können, meinen geliebten kleinen Fausto. Gott sei seiner unschuldigen Seele gnädig.“
„Oh, er ist sicher bei unserem Herrn, Lauro. Dessen können wir getrost sein.“
„Lass uns für ihn beten, Vicenzo.“
Der Freund nickte. Gemeinsam falteten sie zur Fürbitte ihre zusammengeketteten Hände.
„Vicenzo“, versuchte Lauro später mit aller Kraft, sein Schluchzen zu unterdrücken. „Wie konntest du nur weiterleben, nachdem dir Gott im gleichen Moment Frau und Sohn nahm?“
„Frage nicht, Lauro. Aber so grausam unser Herr sein kann und unsere Liebsten zu sich holt, so barmherzig ist er auch, glaube mir.“ Einfühlsam versuchte Vicenzo zu lindern.
„Die Zeit hilft dir. Jeder Sonnenaufgang nimmt in seinem folgenden Tageslauf ein Körnchen vom Schmerz aus deiner Seele. Er wandelt deine Verzweiflung in liebevolle Erinnerung und Dankbarkeit für das Wegstück, das man gemeinsam gehen durfte. Und“, sein Flüstern wurde eindringlich, „er schenkt die Hoffnung, sich eines Tages wiederzusehen, auf ewig zu seinen Füßen vereint.“
Lauro spürte in seine Seele. Aber er drang nicht in deren Tiefe, so, wie er es immer gekonnt hatte, wenn er seinem Glück, das ihn oft in den heimatlichen Hügeln überkam, in sein Inneres nachgefolgt war.
„He, vorwärts, du stinkender Esel!“ Mehrere Peitschenhiebe klatschten auf Lauros Kopf und Schultern. Sie holten ihn aus seinen traurigen Gedanken in seine traurige Wirklichkeit zurück und erstmals, seitdem sie durchs Land getrieben wurden, wandte er sich seinen Gefährten zu:
Korbinian hatte man an diesem Tag zusätzlich schwere Eisenkugeln an Armen und Beinen angehängt. Der teutsche Hüne mit seinen strohblonden, struppigen Haaren auf dem kantigen Schädel jagte den Soldaten anscheinend unverändert Respekt ein. Aber auch dieser Versuch, sein Ungestüm zu brechen, verlief im Sande. Die Hände vor dem Leib zu Fäusten geballt, schritt er kraftvoll aus. Seine Zähne knirschten unentwegt. Seine Augen drohten und er schien sprungbereit wie ein Raubtier.
Korbinians Stärke und unübersehbare Willenskraft beseelten Lauro. Zudem war er im Moment das Einzige, was ihn noch mit Montemano verband.
Maurizio und Fabrizio dagegen sendeten flehentliche Blicke in ihre Umgebung. Verängstigt und blass hatten sie Mühe, Schritt zu halten.
Und noch während Lauros Augen wanderten, hörte er plötzlich leise, unbeschwerte Stimmen.
„Angenehm, Francesco Marcantonio[3] und Niccolò Martelli, stolze Patriziersöhne aus Asti. Ungezwungen und frei von adeligen Blutsbanden. Weltoffen, nicht abgeschottet hinter dicken Mauern der Stammsitze. Nicht verpflichtet der Linie und dem Wappen von Geburt bis in den Tod.“
Befremdet sah Lauro in die Antlitze zweier junger Männer, die abwechselnd gesprochen hatten. Vor der Gefangenschaft anscheinend aufs Feinste gepflegt und zudem vornehm gekleidet, jedoch anders als er oder Vicenzo, nämlich freier und mondäner, lächelten sie ihn an.
Lauro erwiderte den überraschenden Gruß nicht.
Daraufhin meldete sich einer der beiden, auffällig seine wuschelige Haartracht, abermals zu Wort.
„Und nicht zu vergessen“, kam verschmitzt, „verehelicht nach Gefühlen und nicht, weil dem Adelsgeschlecht von Braut und Bräutigam förderlich.“
„Von wegen, verehelicht, Niccolò. Übertreibe nicht. Wir sind beide unbeweibt, noch liegt vor uns, die Haut zu Markte zu tragen“, witzelte sein Nebenmann.
„Wie könnt Ihr so sprechen angesichts unserer verzweifelten Lage!“ Vorsichtig, doch regelecht erbost hatte sich Vicenzo genähert. Lauro verzog schweigend das Gesicht.
Die zwei Patrizier[4] sahen sich an.
„Siehst du, Francesco?“
„Ja, ich sehe, Niccolò… Äh, was?“
„Sprösslinge kriegerischen Kleinadels anstatt nonchalanter Patriziersöhne einer leuchtenden Stadt.“
Als Francesco gewahr wurde, wie sich die beiden Adelssöhne von ihnen abwandten, näherte er sich, einen wachsamen Blick auf die französischen Patroullien, Vicenzo aufs Neue. „Bitte“, flüsterte er, „verzeiht uns unseren kleinen Spott. Lasst uns einfach das sein, was wir alle sind. Nämlich piemontesische Leidensgenossen, entehrt und gepeinigt von einem gemeinsamen Feind. Nicht nur eure Burgen und eure Familien, auch unsere Stadt und unsere Liebsten sind betroffen. Also bitte, teilen wir unser Leid. Stützen uns mit leisem Humor. Nur so nehmen sie uns nicht Würde und Lebensfreude. Irgendwann ist es vorbei.“
Vorsichtig und versöhnlich bot er Vicenzo seine zusammengeketteten Hände, die dieser zwar mühsam, aber ohne Umschweife freundlich drückte.
„Wie du Recht hast! Wie war noch dein Name?“
„Francesco Marcantonio.“
„Marcantonio… zu Recht: Ein Pfundskerl bist du! Ich freue mich, dich kennenzulernen. Und, übrigens, nicht kriegerischer Kleinadel, sondern verarmter Landadel. Angenehm, Vicenzo di Fossano.“
Die beiden Männer lächelten einander an, dann beendeten mehrere heftige Peitschenhiebe unsanft ihre Konversation.
Lauro, durchaus frei von Dünkeln, aufgeschlossen und tolerant, fand dennoch für den Moment keinen Zugang zu Söhnen einer städtischen Elite. Einen kurzen freundlichen Blick, mehr konnte er sich vorerst nicht abringen. Er wandte sich ab und versank in seine allgegenwärtigen traurigen Grübeleien.
„Was ist ihm?“ Francesco hauchte zu Vicenzo.
„Sie haben seinen kleinen Bruder getötet, vor Savigliano“, kam es flüsternd. Abermals zischten Peitschenhiebe durch die Luft.
„Später mehr, neuer Freund“, signalisierten sich die beiden jungen Männer mit Blicken. Hernach senkten sie ihre Köpfe und ließen sich schweigend weiter treiben wie Vieh.
Musik Ende Episode 8:
ES_Uncharted Lands – Christoffer Moe Ditlevsen
https://www.epidemicsound.com/track/EAshJAezn1/
[1] ital. Ebene, hier: die oberitalienische Tiefebene zwischen den Cottischen Alpen und der Alta Langa
[2] Fluss, entspringt an den Alpen zwischen Ligurien und Südfrankreich und mündet in den Po
[3] ital. umgangssprachlich für Mordskerl, starker Mann
[4] städtische Führungsschicht / Elite, begütert, städtische Ämter innehabend, dem Landadel ebenbürtig