Episode 17 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Fortsetzung Kapitel 3


Im Verlies auf Burg Cortemilia, noch immer am 05. August 1557

Diesmal betrat Emanuele den Kerker der beiden Freunde in Begleitung mehrerer Wächter. „Ihn zuerst!“, befahl er mit einem Fingerzeig auf Lauro, der sofort gepackt und zu ihm gezerrt wurde.
Wieder traf Lauro jenes hauchfeine, überlegene Lächeln. Dank Don Sebastiano nun wissend, begegnete er diesem Hochmut aber mit festem Blick.
„Vergiss sie…“ Emanuele legte nach. Lautlos bewegte er seine Lippen und nur einen Wimpernschlag später stülpte er Lauro einen kleinen Sack über den Kopf. „Los“, hörte Lauro seine nun gedämpfte Stimme. Begleitet vom leisen Rascheln des Strohs, unter dem Don Sebastiano sich verbarg, zerrte man ihn aus dem Kerker.
„Lauro“, drängte sich der Name des Freundes angstvoll aus Vicenzos Kehle, als die Gittertür schwer ins Schloss fiel. Auch ihn traf Emanueles Lächeln, bevor der sich abwandte und den Wachen folgte.
„Gott steh ihm bei!“ Don Sebastiano flehte leise aus seinem Strohhaufen. Vicenzo stimmte ein. Er sank auf die Knie und faltete seine zusammengeketteten Hände in Richtung der kleinen Maueröffnung hoch über ihm. Unter seiner Fürbitte begann er zu zittern. Er schloss die Augen und schlang seine Arme fest um sich in der tief gefühlten Vorstellung, den Freund beschützend zu umarmen. So verharrte er am Boden und verlor das Zeitgefühl…

Das schleifende Geräusch von Füßen, die ihren Dienst nicht mehr taten, riss Vicenzo irgendwann aus seiner Versenkung. – Lauro wurde zurückgebracht. Als man ihn, den Sack vom Kopf gezogen, ins Stroh warf, erkannte Vicenzo, dass er ohnmächtig war. Kurz darauf bekam Vicenzo selbst den Sack übergestülpt und die beiden Wächter zerrten auch ihn aus dem Verlies.
Obwohl er nicht sehen konnte, wohin der Weg führte, spürte er trotzdem, dass es abwärts ging. Eine Treppe folgte der nächsten und die Geräusche der Schritte begannen mehr und mehr zu hallen. Um einiges später hieß man ihn stehenzubleiben und die Eisen um seinen Handgelenken lösten sich. Gleichzeitig wurden ihm die Arme um einen Pfahl in seinem Rücken gezwungen und dort wieder zusammengekettet.
Nachdem ihm der Sack vom Kopf genommen war und sich seine Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, fand er sich allein am Boden einer riesengroßen Grube. Noch während er um sich spähte, öffnete sich unweit von ihm ein Gittertürchen. Hinter diesem schloß sich ein niedriger Gang an, aus dem zuerst undeutliche Geräusche drangen, die sich zum einem gleichmäßigen Rauschen und Reiben intensivierten. – Vicenzos Herz begann zu rasen. Die übergroßen, gelbfunkelnden Augen mit hochgestellten Pupillen sah er noch. Aber nur wenige Augenblicke später ließ ihm ein höllischer Schmerz seine Sinne schwinden.

Einzig frisches Stroh war in den Kerkern aufgeschüttet. Ansonsten überließ man die Männer in der einsetzenden Verwandlung sich selbst.
So gut Don Sebastiano es vermochte, wachte er wenigstens bei seinen beiden Schützlingen über das unmittelbar nach dem Schlangenbiss einsetzende Fieber. Angestrengt lauschte er den Geräuschen im Verlies nach und seine Ohren vernahmen an diesem Tag noch fünfmal, wie man jeweils einen der Männer wegbrachte, um ihn nachher in den Kerker zurückzuschleifen.
Sieben junge Männer“, dachte er still bei sich. „Sieben hoffnungsvolle Leben hättest du heute ausgelöscht, mein geliebter Sohn.“ Kopfschüttelnd rannen Tränen über seine runzeligen Wangen. Unter der Last seiner tiefen Reue widmete er sich wieder den beiden im Fieber stöhnenden Adelssöhnen.

Oben auf Burg Cortemilia am 06. August 1557

In ihrer zweiten Nacht auf Cortemilia hatte Edelfa, frisch gebadet und zwischen sauberen Laken, so tief und fest geschlafen, dass sie am nächsten Morgen ob ihres Wohlgefühls beim Aufwachen meinte, sie wäre wieder zu Hause… Indes. Vollends munter, zerrann ihre Illusion wie Schnee in der Sonne:
Gefangen war sie, eingesperrt, ausgeliefert – ihm und seiner furchtbaren Mutter.
Ob die sieben Männer ebenso hier waren? Ob sie diese wiedersehen würde, irgendwie? Sie hoffte so sehnsüchtig auf Beistand in ihrer Lage…
Edelfa verließ das Bett und trat an ein Fenster. Sie öffnete es mit einem kräftigen Rütteln, um sich dann hinauszulehnen:
Sie befand sich in einem der oberen Stockwerke. Der von einer hohen Mauer umgebene Burghof lag weit unter ihr. In der sich ihr bietenden Fernsicht konnte sie, außer einem kleinen Ort unterhalb der Burg, nichts weiter ausmachen als jene Alta Langa – grün, einsam, unbesiedelt, soweit ihr Blick auch reichte. Einzig aus dem Fenster in den Tod zu springen bliebe ihr, resümierte Edelfa niedergeschlagen. Doch das wäre eine Sünde, die sie mit dem Fegefeuer bezahlte.
Tieftraurig wandte sie sich zurück ins Gemach. Im Wunsch, Trost in einem Gebet zu finden, sah sie sich suchend um, aber ein Kreuz konnte sie nirgends entdecken. Deshalb sank sie nahe des Fensters auf die Knie. Sie richtete ihre Augen in den Himmel und betete.

„Ein Kreuz“, hörte Emiliana hinter sich, als sie Edelfas Gemächer wieder verlassen wollte. „Wenn Ihr mich schon einsperrt, so gebt mir wenigstens ein Kreuz, unter dem ich Trost finden kann.“
„In diesem Haus wird nicht gebetet“, gab Emiliana eintönig zurück, ohne sich nochmals nach ihr umzusehen.

Derweil im Verlies von Burg Cortemilia

Am zweiten Tag ihrer Verwandlung begannen Lauro und Vicenzo, sich unter heftigem Schüttelfrost zu winden.
Don Sebastiano fasste Stroh in seinen Händen und rieb den Frierenden den kalten Schweiß von der Haut. So gut es seine wenigen Kräfte zuließen, massierte er die beiden Adelssöhne, damit ihre Körper sich erwärmten.
Aber am dritten Tag, an dem die Muskelschmerzen wüteten, blieb er den Schreien der Männer hilflos ausgeliefert.

Im Speisesalon auf Burg Cortemilia am Morgen des 07. August 1557

„Ich möchte sie deinem Vater vorstellen.“
Wie beiläufig, sich seiner Zustimmung gewiss, eröffnete Emiliana ihrem Sohn ihr Ansinnen, als sie am nächsten Morgen bei ihrem für gewöhnlich gemeinsamen Frühstück saßen.
Emanuele hatte sich soeben ein Stück von seiner Brioche abgezupft, in ein Marmeladenschälchen getunkt und genüsslich in den Mund geschoben. Erstaunt hielt er kurz inne, kaute und schluckte. „Wann?“
„Nun, bald… Warum nicht jetzt?“
„Bitte, Mutter, das hat Zeit. Lass uns erst kennenlernen. Noch verwehrt sie sich mir vehement. Wir würden sie zu sehr verschrecken, so gläubig wie sie offensichtlich ist.“
„Soll sie für dich nun gebären oder nicht? Wozu haben wir sie gekauft?“
„Mutter, bitte.“ Emanuele bat eindringlicher. „Sprich nicht so. Wenn sie mir zugetan ist und in meinen Armen liegt, so versichere ich dir, werde ich sie vorbereiten, auf Vater.“
„ER könnte deine Wünsche unterstützen, mein Sohn. Bald schon wäre sie gefügig, wäre sie dein, dir vor allem sicher. Warum willst du warten?“
„Weil sie mich reizt, feurig und schön wie sie ist. Du lässt mir Zeit, mich ihr zu nähern, wie ein Mann sich einer Frau nähert. Wollte ich ein willenloses Weib, so hätte ich dies längst.“
Wieder öffnete sich Emilianas Mund, um Emanuele zu entgegnen. Doch er winkte entschieden ab und erhob sich. „Ich sage nein. Also bitte, akzeptiere meine Wünsche.“
Zum Missfallen seiner Mutter ließ es sich Emanuele auch an diesem Morgen nicht nehmen, Edelfa wiederum ein kleines Frühstückstablett zu richten und zu ihr zu gehen. Noch immer sprach sie kein Wort mit ihm…

Nachdem Emanuele das riesige Himmelbett bewundert hatte, das eiligst nach seinen Vorgaben gefertigt, angeliefert und üppigst mit Damast und Seide eingedeckt worden war, trat er zu Edelfa ans Fenster. Mit versonnenem Blick in das herrliche Morgenlicht bürstete sie sich dort ihr glänzendes Haar.
„Guten Morgen, Taube“, schickte er zu ihr. Aber wiederum grüßte er sie vergeblich in der Hoffnung, sie würde sich ihm vielleicht heute zuwenden.
Edelfa hörte ihn. Gleichwohl ignorierte sie seine Anwesenheit. Extra langsam und sinnlich strich sie mit der Bürste durch ihre langen Strähnen, bis sie feststellte, dass sich sein Blick an ihr verfing. Ohne die Aussicht auf eine baldige Fluchtmöglichkeit hatte sie sich nämlich einen anderen Plan ersonnen. Zu verwirklichen gedachte sie ihn mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung standen. Und zwar mit ihrem Äußeren, ihren weiblichen Reizen und seiner unübersehbaren Empfänglichkeit dafür. Sehr wohl wusste sie ihre Anmut einzusetzen, wenn es ihr darauf ankam und genau dies war jetzt der Fall. „Starre mich an, du Schönling“, dachte sie verächtlich. „An mir beißt du dir die Zähne aus. Und zwar so lange, bis du die Lust verlierst und mich wieder freilässt.
Somit ließ sie sich in keiner Weise anmerken, dass auch er ihr zweifelfrei gefiel. Er war ein stattlicher, sehr schöner Mann und sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein vollendeteres männliches Wesen erblickt zu haben. Dazu schien ihr seine Freundlichkeit in seinem unverkennbaren Bemühen um sie aufrichtig. Auch seine plötzliche Zurückhaltung ging nicht an ihr vorbei. Obwohl sie nicht wusste, wer sie in die Turmkammer gebracht und derart erniedrigt hatte, verdächtigte sie eher seine abstoßende Mutter. Trotzdem. Unverzeihlich war es, wie auch er mit ihr umgegangen war und noch mit ihr umging, sie einsperrte, ob er sie nun aus seiner Sicht gekauft hatte oder nicht. Ihrer Meinung nach hätte es ihm als Adeligen eine Ehre sein müssen, sie den Franzosen zu entreißen und zu beschützen, ganz so, wie es die mit ihr gekauften Männer trotz ihrer verzweifelten Lage versucht hatten. Warum umwarb er sie wiedergutmachend nicht einfach? Vielleicht würde sie darauf eingehen…
Fast war Emanuele versucht, in ihr weiches, kaffeebraunes Leuchten zu greifen. In seiner Vorstellung hielt er ihre Haare bereits in Händen… ringelte er ihre Strähnen um seine Finger… führte sie zu seinem Gesicht und atmete ihren Duft von Rosengeranien tief ein… Doch nach allem, was seit den schönen kurzen Momenten, als er sie im Wald wieder eingefangen und mit ihr geplaudert hatte, vorgefallen war, traute er sich dies nicht mehr. Ihr Auftreten ihm gegenüber flößte ihm Respekt ein und er hielt Abstand. Er war unsicher geworden. Einzig zu träumen wagte er. Vorerst.
Edelfa schloss geräuschvoll das Fenster, an dem sie eben noch stand. Dadurch riss sie Emanuele aus seinen stillen Wünschen. Sie wandte sich ab und ging durch die kleine Seitentür in das Nebengemach. – Galant überspielte er ihre Abneigung.
„Heute findet der Schneider endlich Zeit für dich, Taube!“, rief er ihr nach. „Bitte, mache mir eine Freude und sei nicht zu bescheiden! Teile ihm deine Wünsche mit! Schließlich benötigt eine schöne Frau wie du viele schöne Kleider!“
In erneuter Hoffnung, sie würde zu ihm treten und ihm auf seine Freundlichkeit vielleicht doch ein Lächeln schenken, wartete er wiederum vergeblich. – Edelfa blieb fest. Er war einfach nur Luft für sie. Lediglich das von ihm mitgebrachte kleine Frühstückstablett fand ihre Aufmerksamkeit, als er endlich gegangen war.

Auch wenn Emanuele in ihrer Gegenwart ihre andauernde Ablehnung wieder einmal überspielt hatte, ließ ihm diese, zurück in seinen Gemächern, keine Ruhe:
Darüber wundern musste er sich nicht, stolz und selbstbewusst wie Edelfa war. Er hatte sie gebunden wie ein wildes Tier und seine Mutter hatte sie im Burgturm vegetieren lassen, noch schlimmer als ein wildes Tier.
So redete sich Emanuele gut zu. Er würde seine Taube für das, was sie bisher von Cortemilia erdulden musste, mehr als entschädigen und verwöhnen. Zuerst käme nun endlich der Schneider. Sie sollte so viele schöne Kleider haben, wie sie sich nur wünschte. Schon jetzt freute er sich darauf, passende Schmuckstücke dafür auszusuchen. Des Weiteren sah er sie auf einem edlen Pferd in der Farbe ihres Haars neben sich reiten. Sie schien ihm eine perfekte Reiterin und er könnte ihr mit einem solchen Geschenk bestimmt eine weitere Freude bereiten. Leckereien, Weine, bestes Essen würden ein Übriges dazutun, und – seine Gesellschaft natürlich. Wenn auch vorerst nur zurückhaltend, bis er sich ihr gegenüber wieder sicherer fühlte. Bald, dessen war er sich gewiss, würde sie vergessen, was man ihr angetan hatte…

Im Empfangssalon auf Burg Cortemilia am gleichen Tag

„Was meinst du, Mutter? Die Gelegenheit wäre günstig. So einfach an Sklaven zu kommen, ist nur in diesen verworrenen Kriegstagen möglich.“
Voller Abneigung sah Emiliana zu einem französischen Kurier des Marschall de Brissac, der auf Antwort wartete. Doch sie gab Emanuele Recht. „Ja, mein Sohn“, seufzte sie. „Hausdiener sind es genug. Aber mehr Wächter könnten nicht schaden.“
Emanuele trat so dicht an seine Mutter heran, dass der Bote ihn nicht hören konnte. „Kommst du zurecht, mit den Männern im Verlies? Sie sind stark nach dem ersten Biss. Doch der Willen ist noch ihr eigener.“
„Darüber mache dir keine Sorgen“, winkte Emiliana ab. „Sie sind angekettet und hinter Gitter. Was soll geschehen? Und, länger als drei Tage wirst du nicht wegbleiben. Oder irre ich?“
„Nein. Drei Tage müssen ausreichen, andernfalls kehre ich zurück. Der zweite Biss, Mutter, du weißt. So ist es abgemacht. Ich breche auf.“
Zustimmende Blicke getauscht, wandte sich Emanuele dem Franzosen zu. „Habt noch etwas Geduld. Ich komme mit Euch.“
„Und die Taube, Mutter“, drehte er sich, bereits im Gehen, nochmals um. „Bitte, sei diesmal gut zu ihr.“
Vom Rücken seines tänzelnden Hengstes aus sah Emanuele sie kurz darauf oben am Fenster stehen. In seiner Wunschvorstellung, dass sie ihm nachblickte, riss er sein federgeschmücktes Barett vom Kopf und schwenkte es zu ihr. „Ich hoffe, du winkst mir zum Gruß, wenn ich zurückkehre, Taube“, schrie er.
Nachdem er seine Kopfbedeckung wieder aufgesetzt hatte, warf er ihr einen lederbehandschuhten Kuss zu, was Edelfa jedoch entging. Längst hatte sie sich vom Fenster abgewandt.
Drei Tage, Taube. Drei Tage nur…“ Emanuele tröstete sich und galoppierte dem schweren Gefährt hinterher, das soeben aus dem Burgtor gerumpelt war.

Drei Tage würde Emanuele auf jeden Fall wegbleiben. Diese Zeit sollte ausreichen, dass ER sich ihrer Seele bemächtigt hätte. Unbedingt gehörte sie IHM, die Jungfrau. Auch ohne Emanueles Zustimmung. Vorranging galt es, IHM ihre bedingungslose Untergebenheit einmal mehr zu versichern.

 

Musik Ende Episode 17: Howard Harper-Barnes, Mysterious Forest
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