Episode 23 Des Teufels Finger I - Lügengespinst
Fortsetzung Kapitel 4
Nahe Monforte d’Alba in der Nacht vom 11. auf den 12. August 1557
Mit dem Einbruch der nächsten Nacht waren sie leise aufgebrochen. Von der Hügelkuppe, auf der Monforte d‘Alba thronte, hielt man Abstand, soweit es nur irgendwie ging, ohne dabei die ersehnte Richtung allzu weit von sich zu lassen. Die Gefährten schlichen durch die Reihen der geplünderten Weinreben und jeder von ihnen fühlte förmlich das Nadelöhr, durch das sie hindurch mussten.
In gebückter Haltung, sich nur durch Zeichen untereinander verständigt, war es für Lauro und Vicenzo nicht nur besonders anstrengend, Edelfa zu tragen. Obenauf schwebten sie in ständiger Angst, dass sie nicht schweigen würde.
Zu Lauros völliger Überraschung, er trug Edelfa in diesem Moment, hatte sich Korbinian genähert und signalisiert, ihm Edelfa abzunehmen. Schon griff er nach ihr… Mit heftigem Kopfschütteln wehrte Lauro ab. – Unverstanden von Korbinian, der scheinbar wild entschlossen war, von sich aus zu helfen.
In tonlosen Stoßgebeten, dass sie stumm bliebe, um nicht vom französischen Feind und auch nicht von Korbinian gehört zu werden, presste Lauro die junge Frau fest an sich.
Vicenzo, der die Szenerie wahrgenommen hatte, eilte seinem Freund zu Hilfe. – Keine Sekunde zu früh:
Eben öffnete sich Edelfas Mund, während sich ihr unheilverkündender Blick Korbinian zuwandte. Schnell legte Vicenzo ihr seine Hand auf den Mund und schob den Blondschopf freundlich, dennoch mit nachdrücklichem Gesichtsausdruck, beiseite.
Die Augen zusammengekniffen, mit den Händen abgewunken und ein Brummen in seinem Gesichtsausdruck, trottete sich Korbinian.
Schwere Blicke waren es, die die beiden Freunde tauschten…
Als sie sich ein erstes Mal umdrehten, lag Monforte d‘Alba bereits weit hinter ihnen. Vor ihnen schlängelte sich die Zufahrt in vielen Kurven talwärts und der suchende Blick zum nicht mehr auszumachenden Barolo versicherte den Freunden im Nachtdunkel, dass sie vorerst der unmittelbaren Gefahr entronnen waren. Dazu hatten sie die durchweg mit Weinreben bebaute Gegend verlassen. Erneut fanden sie schutzbietende Waldstücke vor, die sich mit üppigen Wiesen, aber auch mit einigen Anwesen und Gehöften abwechselten.
Obwohl ihre Nerven noch zum Zerreißen gespannt waren und ihnen der Herzschlag in der Brust hämmerte, trauten sie sich, kurz zu rasten. Sie kauerten sich zueinander. Trotz der Finsternis trafen sich ihre Blicke und neben dem zur Ruhe kommenden Atem hörte man erleichterte Seufzer.
„Was war das vorhin, Lauro?“, zischte Korbinian zwischen seinen Zähnen. „Warum wolltest du nicht, dass ich dir helfe?“
„Lass es gut sein, Korbinian.“ Wiederum kam Vicenzo dem Freund zur Hilfe, der die eingeschlummerte Edelfa in seinen Armen wiegte.
„Ihr brütet was aus, ihr beiden. Ich spüre es. Von wegen Freund.“ Halb beleidigt winkte Korbinian ab, hob aber auf einmal seinen Zeigefinger und lauschte. „Hört ihr, was ich höre?“
Alle spitzten die Ohren. „Meinst du das Viehblöken und Kettenklirren?“
„Na was denn sonst, Männer!. Wo, bitte sehr, blökt hier noch Vieh?!“
„…als bei Franzosen…“, kam aus der Runde.
„…oder bei elendigen Heimatverrätern. Also. Ganz gleich, ob Froschfresser oder Verräter. Wir schaden niemandem, wenn wir…“ Korbinian konnte seinen Satz nicht beenden. Angezündet von seinem Vorhaben, fiel man ihm ins Wort.
„…uns nehmen, woran es uns mangelt!“, beendeten mehrere Kehlen einstimmig, und Lauros Warnung, leise zu sein, wurde ignoriert:
Nicht nur ihre Mägen lechzten nach Erquickung. Auch ihre Kleidung bedurfte dringendst Zufuhr. – So war ihr erster Raubzug beschlossen. Blieb lediglich auszulosen, wer Dieb spielte.
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Auf Zehenspitzen hatten sie sich durch den finsteren Stall in die Gesindeküche geschlichen und gelangten, wie erhofft, in eine gut gefüllte Vorratskammer.
Niccolò und Vicenzo, auf die das Los gefallen war, stopften Brot, Käse und einige luftgetrocknete, verführerisch duftende Würste unter ihre Hemden. Dazu durchwühlten sie erfolgreich mehrere Truhen nach passenden Kleidungsstücken für die Männer, und auch für Edelfa fand sich ein wärmendes Schultertuch.
Niccolò, siegessicher ein Stück Seife und ein großes Messer in den Händen, lachte stimmlos zu Vicenzo.
Dieser nickte zustimmend. Er signalisierte Rückzug und griff, fast wieder aus dem Stall geschlichen, einige herumliegende Stricke.
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Hinter Monforte d’Alba am 12. Aufgust 1557
Nach einem heftigen Sturm, an den die Gefährten in den vergangenen Stunden schwer Tribut gezahlt hatten, blieb der übliche, bereits in der Frühe über die Landschaft wabernde Dunst aus. So folgte ein herrlich klarer Morgen – und sie tauchte am Horizont vor ihnen auf:
Die Bergkette der Cottischen Alpen mit dem sich majestätisch erhebenden Gipfel des Monte Monviso.
Mit verständlicher Gier war ihr essbares Diebesgut im Handumdrehen vertilgt, und man beschloss, sich in einem der Waldstücke in Sichtweite Monforte‘s für den kommenden Tag zur Ruhe zu legen. Zu nervenzehrend waren die letzten Stunden gewesen und zu sehr genoss man den endlich wieder halbwegs gefüllten Magen. Einschließlich Edelfas fielen die Freunde erschöpft in ein gemeinschaftliches Koma.
Beim Aufwachen am nächsten Abend fand sich folglich nicht der kleinste Krümel, den man als Wegzehrung hätte mit sich nehmen können. Denn, obschon ihre Mägen noch längst nicht knurrten, verlangten ihre ausgehungerten Sinne trotzdem nach erneuter Labsal. Keiner der Gefährten meinte, über die Kraft zu verfügen, die erlittenen Hungertage ein weiteres Mal durchzustehen. Demnach einigte man sich über einen baldigen zweiten Beutezug. Einzig Lauro lehnte ab. Doch, in keiner Weise Befehlsgewalt, war er überstimmt. Zudem fiel das Los auf ihn.
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Hinter Monforte d’Alba in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1557
„Edelfa, wir müssen weiter.“ Lauro nahm sein Wams von ihr und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Anstatt ihm zu folgen, hörte er wieder ihr übliches Klagen. Entschieden zog er sie mit sich.
Auch wenn sie barfuß gehen musste, hob sie in dieser Nacht keiner der zwei Freunde auf die Arme. Stattdessen ließ man sie stundenlang mitlaufen. Einzig wenn sie zurückblieb, fassten Lauro oder Vicenzo sie bei der Hand und zwangen sie, dem zügigen Tempo der Gefährten zu folgen. Verzagtheit und Angst wegen ihres eigenartigen Verhaltens überstiegen das Mitleid der beiden. Dafür teilten sie die Hoffnung, dass Edelfa im straffen Fußmarsch kein Atem zum Jammern blieb und sie tagsüber vor Erschöpfung fest schliefe.
Verwundert darüber, dass Edelfa plötzlich so unbarmherzig zu Fuß gehen musste, näherten sich die anderen Gefährten. In der Annahme, Lauro und Vicenzo würde die nächtliche Schlepperei zu viel, boten sie ihre Hilfe an. Im Endergebnis erreichten die beiden Freunde genau das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigten.
„Was ist denn in euch gefahren? Was tut ihr mit ihr?“ Korbinian trat zu Edelfa, und bevor Lauro und Vicenzo es sich versahen, griff der Hüne nach ihr und hob sie auf die Arme. „Komm, Mädel. Lass dich von mir tragen, wenn die beiden Herren dort schwächeln.“ Herzlich drückte er sie an seine Brust.
Kummervoll begegneten sich zwei Augenpaare…
Edelfas Blicke, in Korbinians Gesicht gerichtet, weiteten sich. „Meide mich“, beschwor sie ihn. „Denn ich bringe dir Unglück.“
„Was redest du da? Wieso bringst du mir Unglück?“
Edelfa neigte sich zu ihm und flüsterte etwas in sein Ohr. Daraufhin starrte Korbinian erst entsetzt zu ihr, dann zu Lauro und Vicenzo. „Was“, brummte er finster. „Was geht hier vor? Sie meint, sie sei vom Teufel besessen! Was verbergt ihr vor uns?!“
Seine ungehaltenen Worte ließen auch Francesco und Niccolò erstaunt aufsehen.
Lauro senkte den Kopf und seufzte. „Edelfa, sie macht uns Sorgen, Freunde. Sie…“
„Ich wusste es!“, fuhr Korbinian dazwischen. „Ihr verbergt etwas! Von wegen, nasses Unterkleid!“
Auch Vicenzo atmete schwer. „Bitte, lasst uns rasten, für einen Moment. Wir müssen mit euch reden.“
„Zuerst“, hob Lauro an, als sie zusammensaßen und Vicenzo die leise jammernde Edelfa zu sich gezogen hatte, „dachten wir, sie sei bloß verwirrt. Von den Peitschenhieben dieser schwarzen Gräfin und ihrem schlimmen Sturz im Verlies. Doch mehr und mehr sind wir uns dessen nicht mehr sicher.“
„Wessen nicht mehr sicher?!“ Korbinian konnte, bereits wieder ausgehungert, nicht an sich halten.
„Sie beteuert immer wieder, er habe sie berührt, sie bringe Unglück und sie sei vom Teufel besessen“, presste Lauro hervor.
Im gleichen Moment arbeitete sich Edelfa aus Vicenzos Armen und ihre Worte, die folgten, ließen die Gefährten durchweg erstarren:
„Gegrüßt seist du, Maria voll der Gnade“, hörte man sie. „Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesu. Doch ich bin verflucht und verflucht wird sie sein, die Frucht meines Leibes.“ Dazu wiegte sie ihren Körper in gleichmäßigen Bewegungen.
„Bitte!“ Schnell war Lauro zu ihr gesprungen und hatte seine Arme um sie gelegt. „Erinnert euch daran, wie sie war, als man uns von den Franzosen abkaufte! Eine normale, stolze junge Frau war sie!“
„War“, betonte Korbinian finster. „War, Lauro. Wir wissen nicht, was sie jetzt ist.“
Schweres Seufzen ging durch die Runde. Jeder sah sie vor sich, in ihrem rosa Seidenkleid, auf die Franzosen einschlagend und fluchend…
„Jetzt haben wir sie bei uns. Was sollen wir tun, Freunde? Sie an einen Baum binden und ihrem Schicksal überlassen?“
Keiner der Gefährten wusste eine Antwort auf Vicenzos Frage.
„So lasst uns für sie beten“, erhob er sich. „Und nun kommt. Die Nacht ist kurz und unser Weg noch weit.“
Ausgehöhlt und ratlos, Edelfa abermals mitgezogen, eilte man weiter durch die Nacht.
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Am Ufer des Tànaro, noch immer in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1557
Erleichtert fand man sich wenige Stunden später am Ufer des Tànaro wieder, nahe der Stelle, an der die Franzosen ihnen gewährt hatten, sich zu waschen, in Ketten… Groß war die Versuchung, sich am gleichen Ort ins Wasser zu stürzen, um sich Seelenheil zu verschaffen:
Zwar auf der Flucht, dennoch frei von Ketten und der Angst vor auf sie einprasselnden Peitschenhieben.
Wiederum war es Lauro, der mahnte. Er kannte die Gegend um das unweit gelegene Narzole. Diese versprach nicht nur ein weniger gefährliches Bad im Fluss, sondern dazu schützende Flussauen für den kommenden Tag.
Man folgte seinen Worten, und sie hatten auch diese Strecke zurückgelegt, bevor der Mond untergegangen war und sich der nächste Morgen ankündigte. Trotz der anhaltenden Verwirrung um Edelfa war man sich einig, an versteckter Stelle in den angekündigten Flussauen zu lagern.
Kurz darauf war es soweit und wenn es auch kein Stück des wunderbaren Käses oder der Salami aus ihrem ersten Beutezug war, so trugen die beiden Cousins für das in den Morgen verschobene Nachtmahl wenigstens ein paar stibitzte Äpfel und leidig reife Maiskolben herbei, in die sich die Zähne der Gefährten graben konnten. Notgedrungen stellte man sich vor, in etwas Gehaltvolleres zu beißen.
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Am Ufer des Tànaro, in der Morgendämmerung des 13. August 1557
„Nicht einmal hat er uns behelligt, der schwarze Teufel“, sinnierte Korbinian später. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Blicke in den von der ersten Morgensonne in ein zartes Orange getauchten Himmel gerichtet, lag er wohlig ausgestreckt im Flussbett. „War uns das Glück hold und lauert das dicke Ende noch?“
Mit diesen Worten fuhr er auf. Das Bild der auf ihn zujagenden, schwarzglänzenden Tocke hatte sich in seine Gedanken gedrängt.
Kopfschüttelnd sah er sich um. Befreit stieß er Luft aus seinen mächtigen Lungen und sank mit einem entspannten Lächeln wieder rücklings ins Wasser. Erstmals durchströmte ihn wirklich das Gefühl, kein unfreier Knecht mehr zu sein…
Nach Korbinians Empfinden war ihm die heilige Ruhe nicht lange genug vergönnt, als Niccolòs weibisch verstellte Stimme in sein Gehör drang. Verstimmt wollte er eben eine wohldosierte Drohung in Richtung des Patriziersohnes ausstoßen, doch seine Worte blieben ihm im Hals stecken. Aber nicht vor Ärger, sondern, weil sich seine Mundwinkel in einem ausladenden Grinsen wie zwanghaft bis zu seinen Ohren zogen:
Niccolò, splitterfasernackt, dienerte mit dem erbeuteten Stück Seife in der einen, und dem ebenso unredlich erworbenen Messer in der anderen Hand vor Francesco. Der hatte sich gleich ihm nackt ausgezogen und stand in vornehmer Pose.
„Oh, bitte, mein Herr“, säuselte Niccolò beflissen. „Wo soll ich anfangen? Eher mit der Seife an Euren Lenden oder mit dem Messer an Eurem stattlichen Barte?“ Dabei hielt er das Seifenstück unterhalb von Francescos Hüften, während er mit dem Messer vor dessen Kehle fuchtelte. „Oder vielleicht umgekehrt? Ach, Ihr bringt mich ganz durcheinander, wenn Ihr mich so anseht!“, kokettierte er und seine Griffe änderten ihre Richtung. Nun lag die Seife an Francescos Hals und das Messer piekte weiter unten. „Doch ganz gleich wie. Euer Wunsch wird mir Befehl sein!“
Korbinian fuhr aus dem Wasser auf. Er schlug mit den Händen auf seine Oberschenkel und meinte, es zerreiße ihn vor lauter Lachen. Schon sah er vor seinen Augen, wie Niccolò mit der Seife an Francescos Adamsapfel rubbelte und mit dem Messer an seinem… na ja… kratzte… In diesem Reigen durfte er keinesfalls fehlen! Noch im Laufen zog auch er sich aus und schleuderte seine Kleidungsstücke, ungeachtet eines möglichen Diebstahls durch das strömende Flusswasser, in hohem Bogen übermütig in die Luft.
Die beiden Cousins, ihrer anfänglichen Scheu ebenso entwachsen, gesellten sich springend und lachend hinzu. Auch Vicenzo stürzte sich nackt zu den Gefährten, begann man eben, sich ungestüm mit Wasser vollzuspritzen.
Lauro zögerte noch. Doch auch er, angesteckt von der Ausgelassenheit der Freunde alle Sorgen und Schwere aus seinem Bewusstsein verdrängt, entledigte sich seiner verschmutzten Kleidung. Immerhin schaffte er es, diese ins Flusswasser zur Wäsche einzutauchen und mit Steinen zu beschweren, bevor er sich einer jungenhaften Sorglosigkeit hingab:
Eigentlich ein von ihm still bestauntes Privileg des kleinen Bruders, schien diese schmerzliche Erinnerung in göttlicher Gnade für einen geschenkten Moment gleichsam ausgeblendet…
Musik: Hampus Naeselius, The Way To The Sky
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