Episode 11 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Fortsetzung Kapitel 3

Auf einem Planwagen bei Monforte d’Alba, Anfang August 1557

Mit geballten Fäusten und hasserfülltem Blick auf Emanuele hatte Lauro, während er in Ketten gelegt wurde, zugesehen, wie man die junge Frau wiederum entwürdigte.
Jetzt verfolgte er, wie sie in vorsichtigen Bewegungen versuchte, sich ihre Pein zu erleichtern. Dabei hatte sie ihr Gesicht den sieben Gefährten zugewandt. Ihre Augen hielt sie jedoch geschlossen und man hörte sie keuchen.
Mitfühlend verlor Lauro sich in Kleinigkeiten ihres Äußeren, ohne dass es ihm bewusst wurde:
Langsam streifte er entlang ihrer Gesichtszüge, ihrem Mund, ihrem Kinn, ihrem schlanken Hals, ihren nur halb bedeckten Schultern, an denen sich einige ihrer Haarsträhnen ringelten. Er musterte ihr Dekolleté, das unter ihrem Atem wogte. Dazu klang ihm ihre Stimme in den Ohren, die sich in ihren Flüchen laufend überschlagen, trotzdem nicht schrill, sondern warm und angenehm auf ihn gewirkt hatte. Wie wohl ihr Lachen klingen würde? Als er seinen Blick zu sich zurückholte, schillerte ihr Rosa abermals vor ihm. Im gleichen Moment öffnete sie ihre Augen.
Lauros auf ihr ruhender Blick ließ Edelfa aufstöhnen. Vergeblich versuchte sie, sich auf ihre andere Seite zu wälzen.
Zeitgleich war Emanuele herangeritten und sein Kopf reckte sich ins Gefährt. Unverändert ernst betrachtete er sie und suchte nach ihrem Gesicht. Dabei bemerkte er Lauros Augen, die an Edelfa festhingen.
Gleich dem Blitzen zweier rivalisierender, aufeinandertreffender Schwertklingen begegneten sich die auflodernden Blicke der Männer. Jedem der beiden bewusst, dass sie gleichen Standes waren, unterlag Lauro in seiner erzwungenen Schwäche Emanueles überlegenem, hauchfeinem Lächeln.
Ohne Edelfas Aufmerksamkeit gewonnen zu haben, wendete Emanuele mit leicht zurückgeworfenem Kopf seinen Hengst und gab Befehl. „Los“, rief er in Richtung einer mit stattlichen Rappen bespannten schwarzen Kutsche, die von einem ebenso schwarz gekleideten Kutscher gelenkt wurde. „Auf nach Burg Cortemilia!“ Mit diesen Worten sprengte er davon und der kleine Tross setzte sich in Bewegung.
Vicenzo hatte die Szenerie um die junge Frau und ihren neuen Besitzer, aber auch das Mienenspiel zwischen diesem und Lauro beobachtet. Einerseits war er erleichtert, dass die Sinne des Freundes wieder andere Eindrücke als nur die Schreckensbilder um den kleinen Bruder zuließen. Dennoch stieg Sorge in ihm auf.
„Sachte, Lauro. Mach sachte“, raunte er zum Freund. „Wir wissen nichts über diese seltsamen Herrschaften. Oder hast du schon einmal etwas über diese di Cortemilia‘s gehört?“
„Nein“, brummte Lauro grimmig. Er hatte sich von Emanueles Arroganz noch nicht erholt. „Aber das einzig Gute daran ist, dass Cortemilia nicht allzu weit entfernt liegt und wir wohl vorerst im Piemont bleiben.“
„Was meint ihr?“ Vicenzo seufzte und sah zu den anderen Gefährten.
Francesco und Niccolò stimmten Lauro zu. Maurizio und Fabrizio dagegen rissen ängstlich ihre Augen auf. „Was wird man mit uns machen?“, fragten beide, wie immer fast aus einem Munde.
„Na was wohl?! Von früh bis spät dürfen wir die Drecksarbeiten machen, im Dreck hausen und Dreck fressen“, klinkte sich Korbinian als letzter hinzu.
„Warten wir ab“, hörten sie Lauro mit Blick auf Edelfa und seine Stimme klang fast verheißend. „Hauptsache, wir bleiben zusammen.“
Sie waren sich einig.

Zwischen Monforte d‘Alba und Roddino kam der Tross zügig voran. Auf gleichbleibender Höhe gab es gut befahrbare, wenig kurvige Wege. Jene Hügel der Alta Langa, die ihr Fortkommen in eine beschwerliche Tortur wandeln würden, lagen noch vor ihnen.
Dennoch beanspruchte ihr Weg Emanueles volle Aufmerksamkeit. Andauernd stießen sie auf französische Wachposten, die Durchreisepapiere verlangten. Außerdem galt es, neugierige Blicke von Kutsche und Fuhrwerk fernzuhalten. Deswegen setzten sich seine aufgewühlten Gedanken nur langsam. Wie gerne hätte er in Ruhe über die Neapolitanerin nachgesonnen! Völlig unerwartet, schließlich waren sie zum Kauf männlicher Sklaven aufgebrochen, brachte er nun obendrein eine junge und dazu über die Maßen schöne Frau auf seine Burg. Sie gefiel ihm auf den ersten Blick. Ihr Rosa und ihr Geruch verführten ihn schier zu Tagträumen, die ihm im Moment jedoch nicht vergönnt waren. Auch blieb ihm keine freie Sekunde, um nach ihr zu sehen, was ihn mehr und mehr beunruhigte. Kaum zwei Stunden unterwegs, bereute er, dass er sich von ihren Schmähungen hatte hinreißen lassen, sie derart unbarmherzig zu behandeln. Gehorsam sollte sie ihm leisten. Aber es lag ihm fern, ihr wirkliche Schmerzen zuzufügen. Und diese würde sie jetzt sicher leiden. Am liebsten wäre er sofort zum Planwagen geritten, um sie zu befreien und zu sich aufs Pferd zun nehmen. Er war so neugierig auf sie! Und wie ihn ihre Widerborstigkeit reizte! Gleichfalls beschäftigten ihn ihre Worte, sie würde ihm ihre Gunst gewähren. Dazu missfiel ihm, dass ihr die sieben Männer für Stunden näher waren als er. Vor allem stieg Unbehagen in ihm auf, weil er sie in Gegenwart dieses Conte di Montemano ließ. Zu kraftvoll erschien ihm dieser, zu entschlossen. Ihm war nicht entgangen, wie der sie ansah, seine Taube. Auf ihn würde er besonders achten!
Warte, Montemano“, dachte er bei sich. „Nur wenige Tage noch, dann lernst du unsere Grube kennen! Dann hast du keine Blicke mehr für sie!
Mit diesem Gedankengang spürte Emanuele ein Grausen. Energisch schüttelte er es ab. Er lenkte es um in ein Überlegenheitsgefühl, hin zur Aussicht auf ihr Rosa, mit dem er sich fortan umgeben würde. „Sind wir erst auf Cortemilia, werde ich sie entschädigen“, resümierte er. In Gedanken tändelte er schon mit ihr…
„Emanuele!“, riss ihn der Ruf seiner Mutter aus seinen Überlegungen. „Wo bleibst du denn? Siehst du nicht den Kontrollposten?!“
Seufzend gab Emanuele seinem Hengst die Sporen.

Hinter Roddino änderte sich schlagartig das Landschaftsbild. Die lieblichen Weinberge wichen dem Wechsel aus unzähligen, dicht beieinanderliegenden, schroff aufsteigenden Hügeln und tiefen, engen Tälern. Dicht bewaldet, felsig, unwegsam und bar jeder menschlichen Siedlung soweit das Auge reichte, hatte man die Alta Langa erreicht. Nur kurze Zeit noch und ein erster steiler Abstieg auf den nun steinigen, stellenweise fast unbefahrbaren Pfaden in ein enges Tal hinunter, gefährlich für jedes schwerfällige Gefährt, würde zum Fußmarsch zwingen.
Lauro ertrug Edelfas Anblick und ihr Ächzen, das trotz des polternden Fuhrwerks pausenlos in seine Ohren drang, nicht länger. „Ich befreie sie, Vicenzo. Wie kann man mit einer Frau so umgehen?“ In Unkenntnis der Gefahr angesichts der nach draußen verwehrten Sicht und unter dem sorgenvollen Blick seines Freundes begann er, sich in ihre Richtung zu wälzen.
Und so kam es:
Ein Wagenrad rumpelte über einen massigen Stein, weswegen sich das Fuhrwerk abrupt zur Seite neigte.
Geradeso, dass die Gefährten Lauro noch erreichten, packten sie ihn geistesgegenwärtig. Andernfalls wäre er Gefahr gelaufen, ungebremst gegen die grobleinene Plane des Gefährts zu purzeln, diese am Ende zu zerreißen und einen Abhang hinunter zu stürzen.
Zeitgleich hörten sie die Stimme ihres vorgeblichen Herrn.
„Zuerst die Kutsche, dann das Fuhrwerk!“, rief er. „Lasst die Männer aussteigen und hinter dem Wagen laufen! Aneinandergekettet! Bis ins Tal! Habt ihr verstanden?“
Jetzt holst du sie zu dir“, dachte Emanuele bei sich. Schon zügelte er den Hengst, um abzusteigen. Im selben Moment schossen mehrere Rehe aus dem Dickicht vor die Kutsche seiner Mutter und ließen die Pferde scheuen.
Vergeblich versuchte der Kutscher, das Vierer-Gespann zu beherrschen. Die Pferde bäumten sich, stolperten dabei auf dem unwegsamen Weg und erschraken noch mehr. In heftigen Galoppsprüngen stoben sie abwärts. Die Kutsche kippte dem Abgrund gefährlich entgegen und die Stimme seiner Mutter, zuerst noch schimpfend, schrie auf.
Sofort riss Emanuele sein Pferd herum und jagte der Kutsche hinterher.
Die Gefährten, deren Ketten an den Fußgelenken gelockert wurden, hieß man derweil absteigen und hinter dem Wagen laufen.
Edelfa blieb unbeachtet zurück. Ihretwegen gab es keinen Befehl. Immer wieder erlaubte  die lose herumflatternde Plane den Blick in das Innere des bedenklich schaukelnden Fuhrwerks und man sah die umherkullernde junge Frau.
„Dieser schwarze Teufel, er sollte an ihrer Stelle liegen!“ Einschließlich Korbinians waren sich die Gefährten einig, als die dumpfen Aufschläge von Edelfas hilflosem Körper, begleitet von ihren Klagelauten, zu ihnen schallten.
„Habt ihr kein Erbarmen mit der Frau? So helft ihr doch! Sie wird sich alle Knochen brechen!“ Lauro schrie zu den Wachen, doch diese schienen gehörlos. Niemand reagierte. Verzweifelt sah er zu Vicenzo. „Oh Gott, an wen sind wir nur geraten? Das sind doch keine Menschen!“ Er riss an seinen Ketten und schon suchten seine Augen wieder nach ihr.

Die Gefahr, dass der Kutsche seiner Mutter wegen der durchgegangenen Pferde Unheil geschieht, war gebannt. Doch dieses Rettungsmanöver hatte von Emanueles Kräften und Konzentration gekostet. Um sich von der Anstrengung, aber auch dem Schreck, der ihm noch in den Gliedern steckte, zu erholen, ritt er in gemächlichem Schritt hinter der Kutsche her. Er wartete darauf, dass sich sein Herzschlag verlangsamte und sich seine Sinne beruhigten… Leicht gedankenversunken ließ ihn ein Schrei erneut auffahren:
Diesmal war es der Schrei einer jungen Frauenstimme. Unumwunden sprengte er zum Planwagen.
Heftig schaukelnd und mühsam von seinen Gefolgsleuten gehalten, wurde das Gefährt den Abhang hinunter bugsiert. Wie von ihm befohlen, folgten zu Fuß die aneinandergeketteten Männer. – Nur sie sah er nicht. „Verflucht! Sie werden sie doch nicht…
„Halt!“, schrie er. „Haltet an! Augenblicklich!“ Soeben drang wieder ein verzerrter Schrei, begleitet von einem Poltern, an sein Ohr.
„Taube!“ Hektisch zerrte Emanuele die Plane weg und wurde gewahr, wie Edelfa vom Schwanken des Fuhrwerks hilflos und verrenkt von einer zur anderen Seite hinschlug und sich dabei den Kopf anstieß.
Ungeachtet dessen, dass er mitsamt dem Gefährt den Abhang hinabstürzen könnte, sprang er auf, fasste nach ihr und riss sie zu sich. Wie in einem Schockzustand hatte sich Edelfa völlig versteift.
„Zum Teufel, warum schreist du nicht um Hilfe, wenn dich diese Hirnlosen vergessen haben?!“, donnerte er entsetzt. So schnell er konnte, wühlte er sich durch die Knoten und befreite sie.
„Langsam, vorsichtig“, hörte er sich selbst, unsicher, ob sie verletzt war.
Stöhnend hielt Edelfa ihre Augen geschlossen, derweil er ihre Arme behutsam vom Rücken an ihre Seiten legte und ihre Beine streckte.
Zunehmend erleichtert tastete er sie ab. Sie schien heil, auch wenn sie ächzte. „Nichts gebrochen, nichts ausgerenkt, Taube. Blaue Flecke bekommst du sicher, aber die vergehen schnell. Mutter wird dir eine Salbe zusammenrühren, wie ich sie kenne.“
Emanuele ließ seine Hände nicht von ihr und ärgerte sich über sich selbst, während er wartete, dass sie endlich ihre Augen aufschlüge. „Wie konntest du sie auch nur für eine Sekunde vergessen?!“ Immer noch lauerte er vergeblich auf ihren Augenaufschlag. Um sicher zu gehen, dass ihr wirklich nichts fehlte, gab er ihr eine leichte Ohrfeige. Diese wirkte.
„Verfluchter Bastard! Der Blitz soll Euch treffen!“
„Ja, verfluche mich, wenn es dir wohltut, Taube.“ Emanuele ließ sich einen Schlag gegen seine Brust gefallen. Danach zog er Edelfa energisch auf seine Arme und stieg mit ihr vom Fuhrwerk.
„Vorwärts“, befahl er draußen. Alles setzte sich wieder Bewegung.
Ohne auf die hasserfüllten Antlitze zu achten, trug er Edelfa vor den aneinandergeketteten Männern vorsichtig den Hang hinunter. Unablässig bäumte sie sich gegen ihn…

„Ich habe keine Lust, mit dir in den Abgrund zu stürzen, nur weil du dauernd strampelst!“
Mit Nachdruck stellte Emanuele sie wenig später auf ihre Füße. Wieder ärgerte er sich. Diesmal über sie. Immerhin galt es, ein schweres Wegstück zu bewältigen und er trug sie wiedergutmachend auf seinen Händen. – Schlicht, es schien ihr in keiner Weise aufzufallen.
„Und deshalb, Taube, darfst du jetzt in deinen feinen Seidenstrümpfen über das Geröll schreiten.“ Er packte sie fest bei einer Hand und zerrte sie unnachgiebig hinter sich her.
Als sich Edelfa an einem Stein stieß, trafen ihn abermals ihre unerschöpflichen Verwünschungen. Emanuele ertrug sie schweigend.
Irgendwann ließ sich Edelfa schmerzstöhnend zu Boden fallen. Erst dann nahm er sie ohne ein Wort wieder auf seine Arme und auch Edelfa blieb still.

Mit dem Erreichen des Talgrundes trieb man die Gefangenen zurück auf den Wagen.
Restlos missgelaunt, weil Emanuele sich für Edelfa herabgelassen hatte, mit den gekauften Männern zu laufen, anstatt auf seinem Hengst zu reiten, ohne dass sie dies würdigte, fand sich sie abermals fest verschnürt auf dem schmutzigen Holzboden in der hintersten Ecke des Fuhrwerks wieder.

„Meint ihr nicht“, wanderten Lauros Blicke zwischen den Gefährten, „uns könnte in dieser unwegsamen Gegend die Flucht gelingen? Auch in Ketten? Würden wir uns aufteilen, jeder in eine andere Richtung rennen, sie hätten Mühe, uns durch das Dickicht zu folgen. Dazu verspricht es unzählige Verstecke. Und später könnten wir versuchen, uns wieder zu treffen. Jeder, der die Alta Langa kennt, weiß, wie aussichtslos es ist, irgendetwas oder irgendwen, erst einmal verloren, wieder aufzufinden…“
Vor allem auch wegen der Sorge um die junge Frau hatte Lauro bei ihrem Fußmarsch unablässig die Gegend ausgespäht. Und so konnte er kaum an sich halten, als sie wieder verfrachtet waren und das Fuhrwerk gleichmäßig vorwärts rumpelte.
Unruhe machte sich unter den Gefährten breit, Geflüster, ausgetauschte Blicke…
Edelfa litt derweil unsägliche Qualen. Nicht nur ihre verrenkten Gelenke schmerzten, auch die Füße taten ihr weh. Könnte Sie sich wenigstens die malträtierten Fußsohlen reiben!
Aber sie war den unbarmherzigen Knoten ausgeliefert. Trotzdem entging ihr die plötzliche Aufregung der Männer nicht. Deshalb biss sie die Zähne zusammen und lauschte.
„Nein!“, kam energisch von Vicenzo, „Lauro, nein! Verheddern werden wir uns mit den Ketten im Dickicht! Und rennen können wir nicht und springen auch nicht! Auch nicht klettern und auch nicht unbemerkt schleichen, so wie die Dinger rasseln!“ Seine Worte unterstreichend, schüttelte er seine Ketten, dass sie laut klirrten.
„Er hat Recht, Lauro“, gab auch Francesco zu bedenken. „Sicher haben sie Waffen in der Kutsche. Wie die Wildschweine können sie uns abschießen. Und das Hundevieh erst. Ich möchte dem nicht begegnen, ohne mein Schwert und die Hände in Ketten.“
Lauro seufzte schwer. Es war ihm unerträglich, einem Standesgleichen untertan sein zu sollen, dazu im Ungewissen, was dieser ihnen abverlangen würde… ihr abverlangen würde.
Tief luftholend sah er zu Edelfa. Dabei trafen sich ihre Blicke. Schnell wandte er sich ab in Angst, sie würde sich abermals von ihm belästigt fühlen.
Hingegen – Edelfa fühlte sich nicht belästigt. Schon hatte sie ihren Mund geöffnet, um zu ihm zu sprechen. Enttäuscht, dass er sich so vehement weggedreht hatte, biss sie auf ihre Lippen und lauschte weiter…

Musik Ende Episode 11:
ES_The Story Begins – Hampus Naeselius
https://www.epidemicsound.com/track/6uhLxbXakg/