Episode 12 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Fortsetzung Kapitel 3

Auf einem Fuhrwerk zwischen Roddino und Cortemilia, Anfang August 1557

Edelfa wurde ein zweites Mal enttäuscht. Zu ihrem Leidwesen verwarfen die Männer die Fluchtgedanken desjenigen, den sie mit ‚Lauro‘ ansprachen.
Gut“, richtete sie infolgedessen ihre Gedanken einzig auf sich. „Wenn diese Männer nicht frei sein wollen um jeden Preis, du willst es! Nicht länger erduldest du deine Qualen. Hilf dir selbst, jetzt!
Sie begann, sich zu bewegen. Sie wand Hände und Füße, Arme und Beine, streckte ihre Finger im Wunsch, die Knoten, die sie festhielten, zu erreichen. – Vergeblich. Sie fügte sich nur weitere Schmerzen zu. Resigniert entfuhr ihr ein ungewollt lauter Seufzer. – Man hörte sie.
„Was ist Euch, um Himmels willen?“, raunte Vicenzo zu ihr, bevor Lauro Worte gefunden hatte.
Kaum noch Willenskraft, ihre Schmerzen durch Bewegungen zu verschlimmern, spannte Edelfa trotzdem ihre Muskeln. Sie wandte sich den Männern zu, um dass man ihre Worte verstehen würde. „Ich flehe Euch an! Helft mir aus meiner Lage! Keinen Moment länger ertrage ich diese Schmerzen!“ Sie sackte wieder zusammen.
Ohne zu zögern begann Lauro, sich zu ihr zu wälzen. Das Lauschen auf Geräusche von draußen überließ er seinen Gefährten.
„Lauro“, flüsterte Vicenzo ihm nach. „Tue nichts Unbesonnenes! Sonst ist es gleich vorbei mit dem Zusammenbleiben!“
Lauro schickte ein zusicherndes Nicken zu Vicenzo zurück, unterdessen er sich weiter mühsam in Edelfas Richtung arbeitete. „Psst, bewegt Euch nicht!“, sprach er sie leise an, als er sie endlich erreicht hatte. „Ich will versuchen, Euch Eure Qual zu erleichtern.“
Sein Unterfangen, neben ihr zu knien, damit er die Hände frei hätte, scheiterte. Eben, als er auf den Knien kauerte und seine zusammengeketteten Hände nach ihr ausstreckte, wankte das Fuhrwerk. Lauro verlor das Gleichgewicht und konnte sich nicht schnell genug abstützen. Ungebremst plumpste er auf sie.
„Oh Gott!“ Nur mit Mühe unterdrückte Edelfa einen Schmerzschrei. Vicenzo biss sich erschrocken auf die Lippen, denn jener Schrei gellte ihm bereits in den Ohren…
So vorsichtig wie Lauro nur konnte, rollte er sich von ihr. „Verzeiht“, flüsterte er. „Diese verfluchten Ketten! Seit drei Tagen und Nächten müssen wir sie ertragen!“
Er drehte sich bäuchlings, und, auf den Ellbogen abgestützt, mühte er sich, Edelfa zu befreien. Aber er erreichte die Knoten in ihrem Rücken nicht.
„Ihr müsst mir helfen“, raunte er ihr zu. „Ihr müsst Euch zu mir drehen.“
Edelfa, die seine Berührungen spürte, seufzte und versuchte es. –

„Bitte, bindet mich ganz los“, bat sie wenig später, als sie endlich ihre Beine ausstrecken konnte.
Lauro lag mittlerweile auf dem Bauch, wegen seiner schmerzenden Ellbogen. Auf ihre Bitte hin mobilisierte er sich. Erneut verlagerte er das Gewicht seines Oberkörpers auf die Ellbogen und verkrallte seine Finger an den festen Knoten. „Dieser Teufel“, zischte er in seiner Anstrengung. Im gleichen Moment durchfuhr ihn ein Schauer von Hass, der ihn energisch gegen die Knoten kämpfen ließ. – Er gewann seinen Kampf.
Edelfa war frei und belohnte ihn mit einem zutiefst erleichterten Ausamten. Sie schüttelte die Stricke ab und wandte sich zu ihm. „Das lohnt Euch der Himmel, mutiger Unbekannter. Bitte, nennt mir Euren Namen.“ Ihre dunklen Augen ruhten auf Lauro.
Von ihrem Lächeln fühlte sich Lauro beleuchtet und befangen zugleich. Leise nannte er seinen Namen.
Ihre Augen noch immer auf ihm, griff Edelfa bedauernd nach seinen Ketten. „Würdet Ihr nicht in Eisen liegen, Lauro di Montemano, könntet Ihr mich…“
„Lauro!“, fiel Vicenzo ihr ins Wort. „Bringe uns nicht alle in Gefahr! Komme wieder her! Es findet sich eine Lösung!“
„Ihr hört es.“ Lauro seufzte. Er zwang sich aus ihrem Blick und begann, sich in Richtung der Gefährten zu wälzen.
„So gehabt Euch wohl.“ Edelfa kommentierte mit einem Schulterzucken und schon galt ihre Aufmerksamkeit der Abdeckung des Fuhrwerks. Unweit von ihr verhieß ein Spalt den Blick nach draußen, hinter das Gefährt. Sie huschte dorthin, lüpfte vorsichtig die Plane und lugte ins Freie.
„Was habt Ihr vor? Bleibt hier, um Himmels willen!“ Augenblicklich verharrte Lauro. „Sie werden Euch einfangen und richtig bestrafen, glaubt mir! Habt Ihr nicht den Hund gesehen?!“ Fast flehte er.
Ohne auf ihn zu achten, begann Edelfa, sich ihres Seidenkleides zu entledigen.
Lauro meinte, ihm stocke sein Atem. „Ihr kennt nicht die Alta Langa! Ihr seid verloren in dieser Gegend! Allein! So glaubt mir doch!!“ Jetzt flehte er. Inständig. Hin- und hergerissen wechselten seine Blicke zwischen der jungen Frau und den entgeisterten Gefährten.
„Lauro!“, folgte drohend von Vicenzo. „Komm hierher! Sofort! Für uns alle!“
„Geht zu Euren Freunden. Sie haben Recht.“ Edelfa blickte zu Lauro und hielt inne, sich ihr Kleid auszuziehen, ganz so, als ob sie auf ihn hören würde.
Dessenthalben folgte Lauro seinem Freund. Als er wieder bei den Gefährten lagerte, nickte Edelfa ihm lächelnd zu.
Mutig wollte er erwidern. Doch aus seinem Versuch wurde ein fassungsloses Staunen:
Mit halb offenem Mund verfolgte er entgeistert, wie sich Edelfa ungezwungen bis auf ein geschnürtes Korsett und ihr Unterkleid auszog.
„Zu viel Ballast“, zwinkerte sie spitzbübisch zu den verdatterten Männern, deren Münder nun allesamt offen standen.
Als sie, nach einem weiteren kurzen Spähen ins Freie, auch noch ihre Strümpfe von den Beinen streifte, setzte bei sieben Männern der Herzschlag aus.
In diesem Moment hörte man, wie sich das Hufgetrappel abermals verlangsamte. Mit einem letzten Blick zu den Gefährten bekreuzigte sich Edelfa und ergriff die Gelegenheit:
Flink lüpfte sie die Plane und sprang geschmeidig nach draußen. Damit war sie aus den Augen der Männer verschwunden.
Irritiert sahen sich die Gefährten an und nicht nur Lauro fand keine Worte. Einzig Korbinian kommentierte. „Einfangen wird er sie, der schwarze Teufel, mit seinem Höllenhund! Dieses verrückte Weibsbild! Und wir kosten es aus! Ich habs schon im Urin!“
Trotz seines Unkens schwang dennoch unüberhörbar Anerkennung in seinem Gebrumme.
Indes – Edelfas Sprung war unbemerkt geglückt, weil sich das Fuhrwerk gefährlich zur Seite geneigt hatte und deshalb vollends zum Stehen gekommen war.
„Vorsicht! Schlamm und Steine!“ Rufe hallten und einen Moment später öffnete sich die Plane.
„Löst ihnen die Ketten von den Füßen und lasst sie nochmals aussteigen!“, hörte man Emanueles Befehl, der dabei von seinem Pferd stieg, um es einem Diener zu überlassen und auf den Planwagen zuzukommen.
„Lass uns rennen, Vicenzo…“ Flüsternd drängten sich erneut Fluchtgedanken auf Lauros Lippen. Vielleicht könnte man sie noch einholen…
Vicenzo verneinte mit einem Kopfschütteln, das in Emanueles Richtung wies.
„Da haben wir den Salat. Gleich löffeln wir aus, was die feine Dame eingebrockt hat“, brummelte Korbinian, weit entfernt von Gedanken an Flucht. Er sah im Moment eher Prügeln entgegen, glühenden Eisen, Daumenschrauben und tagelangem Hunger – die schlimmste Pein überhaupt.
Jedenfalls konnten die Gefährten nun ausmachen, wo sie sich befanden. Nämlich inmitten einer riesigen Pfütze, in der ihr Gefährt feststak. Unverändert umgab sie dichter, von Gebüsch durchwucherter Wald. Der Weg vor ihnen war kurvig und seine Richtung lediglich wenige hundert Meter einsehbar. Die Sonne schickte im leisen Windhauch ihre glitzernden Strahlen durch das Blätterdach der hohen Baumkronen. Sie tauchte die Gegend in ein warmes Licht. Der Boden, übersät vom letzten Herbstlaub, beschenkte die Nasen der Männer mit würzigstem Duft.
Lauro versagte es sich, denn hätte er seinem Verlangen nachgegeben, dass sich seine Augen schlossen – er hätte glauben können, er wäre in den Hügeln bei Montemano, das fröhliche Lachen des kleinen Bruders im Ohr… Stattdessen lenkte er seine Gedanken auf die junge Frau. Er sah sie mit offenem Haar durch den Wald eilen, feengleich in ihrem Unterkleid, das ihren geschmeidigen Körper durchscheinen ließ… Im Bruchteil einer Sekunde träumte er sich zu ihr, wie er ihr folgte, sie sich zu ihm umdrehte, lächelte, er erwiderte…
Tatsächlich war ein Lächeln auf sein Gesicht gezogen, weswegen Vicenzo ihn anstieß, weil er nicht einmal zu realisieren schien, dass man sie vom Gefährt heruntertrieb und ihre Aufpasser sie umringten.
Die Gemütsbewegungen des Freundes wohlverstanden, mahnte Vicenzo ihn wiederum. Er fürchtete, dass Lauros Gesichtsausdruck ihn an den schwarzen Teufel verraten würde, der soeben auf das Fuhrwerk stieg und die hochgeschlagene Plane wie unbeabsichtigt hinter sich zuzog…

Leicht verunsichert, wie es ihr wohl ginge, ließe er sie jetzt keinesfalls länger derart verschnürt, wie sehr sie ihn auch noch erzürnte. Emanuele beschwor sich.
Weil er mit ihr ungestört sein wollte, hatte er gewartet, bis die Männer vom Wagen getrieben waren, doch nur, um sich wenige Augenblicke später in einem verwaisten Fuhrwerk wiederzufinden: Die Ecke, in der er sie abgelegt hatte, war leer. Einzig ihr rosa Kleid leuchtete am Boden und verströmte ihren Geruch.
Ungläubig bückte sich Emanuele nach dem bauschigen Kleidungsstück. Er roch daran und wie mechanisch raffte es auf seine Arme. Angestrengt versuchte er dabei, sich zu erinnern, wann er eigentlich zuletzt nach ihr gesehen hatte. So wurde ihm bewusst, dass er in seiner Verärgerung seit dem gefährlichen Abstieg zu Fuß keinen einzigen Blick mehr für sie erübrigt hatte.
Wut stieg in ihm auf. Unbändige Wut. Gewissermaßen über sich selbst. Er lenkte sie jedoch um auf die Männer, die die Gesellschaft seiner Taube geteilt hatten und die wussten, was ihm in diesem Moment entging. Aber – er war der Herr! Er würde es erfahren! Er hatte die Mittel dazu!
Blass vor Zorn stieg er, ihre Kleidungsstücke auf seinen Armen, vom Wagen.
„Aufstellen!“, befahl er. „Nebeneinander aufstellen! Sofort!“
„Niemand löst sich aus meinen Knoten“, zischte er böse und baute sich herrisch vor den Männern auf. „Also sprecht! Wer von euch hat ihr geholfen?!“ Ohne Umschweife tippte seine Reitpeitsche an Lauros Brust und stechend trafen seine Augen direkt in dessen Blick.
Lauro rührte sich nicht. Unbeeindruckt stand er aufrecht und erwiderte den Blick seines Herausforderers.
Emanuele spürte, dass die Augen ihm gegenüber nicht ihn ansahen, sondern stolz und entschlossen ins Leere gerichtet waren. Sie schürten damit erst recht seinen Zorn und vermischten ihn mit heftiger Eifersucht. Hatte dieser Montemano es etwa gewagt, seine Taube zu berühren?! Hatte er ihr ermöglicht, sich ihm zu entziehen?!
Oje!“ Vicenzo hatte die Spannung zwischen den beiden Männern aufgenommen. „Lauro, nicht, nicht…“ Panische Angst um den Freund durchfuhr ihn, derart ungebremst aggressiv wie er ihm erschien. Vicenzo schlussfolgerte, dass sein anstachelndes Verhalten aus dem Seelenschmerz um den Verlust des kleinen Bruders herrührte. Schließlich kannte er Lauro nur besonnen und ausgeglichen, keinesfalls so, wie er sich jetzt gebärdete. „Direkt selbstzerstörerisch ist er“, schoss ihm durch den Kopf. „Ablenken! Du musst den schwarzen Teufel von ihm ablenken! Wir sind ihm ausgeliefert!
Vicenzo handelte. Ohne an sich zu denken, zog er die Unberechenbarkeit jenes undurchschaubaren Conte auf sich. Er riss leicht an seinen Ketten, ließ sein Gesicht mehrmals zucken und rang nach Atem, als ob er in Überwindung sprechen wolle.
Emanuele reagierte sofort. „Du? Willst mir etwas mitteilen?“
So einfach erwischt man dich“, dachte Vicenzo mit aufsteigendem Hass und es kostete es ihn nun nicht die geringste Anstrengung, seinen Kopf stolz in den Nacken zu neigen, den Blick erhaben auf sein Gegenüber zu richten – und zu schweigen.
Ungeduldig klopfte Emanuele mit der Reitpeitsche gegen seine Lederstiefel, während ihn ein Gefühl von Unterlegenheit beschlich. „Freunde sind sie“, hämmerte es in seinem Kopf. „Freunde…“ Er hatte keine Freunde. Nicht einen einzigen. Wieder loderte Eifersucht in ihm auf. Diesmal nicht wegen seiner Taube und Montemano, sondern wegen ihnen, den beiden wohl zu Recht stolzen Adelssöhnen.
Durch seine Drohgebärden, mit denen seine Reitpeitsche mehr und mehr die Luft regelrecht zerschnitt, glitten die von ihm bis dahin unbemerkt gebliebenen Seidenstrümpfe von Edelfas Kleid. Sie fielen zu Boden. Davon wich das letzte Quäntchen Farbe aus Emanueles Gesicht. „Zur Hölle! Hat sie überhaupt noch etwas an?!“ Er fluchte, sammelte die Strümpfe auf und entfernte sich hektisch in Richtung der Kutsche seiner Mutter.

Fürs Erste erleichtert, stieß Vicenzo einen Seufzer aus seiner Brust. „Lauro, was tust du bloß? Bringe dich nicht so in Gefahr!. Denke doch wenigstens an deine Eltern!“
Der Freund nickte. Aber man konnte sehen, dass er sich anderweitig konzentrierte:
Lauro bemühte sich, zu verstehen, welche Worte an der schwarzen Kutsche zwischen Mutter und Sohn gewechselt wurden. – Umsonst. Er sah nur, wie der Hund aus der Kutsche sprang, am rosa Kleid schnüffelte, witterte und lossauste. Emanuele sah er, sich eilig seines Wamses entledigt, mit einigen Stricken in der Hand zu seinem Hengst hasten und der Dogge[1] hinterherzupreschen. „Such, Nero! Such die Taube“, hörte man ihn dabei schreien.
„Der Himmelvater steh ihr bei!“ Lauro flehte. Auch Vicenzos Blick zeigte Sorge.
Korbinian hingegen murmelte. „Selbst schuld, diese heißblütige Süditalienerin.“
Kurz darauf war das Fuhrwerk aus dem Schlamm gezogen. Die Gefährten hieß man aufsteigen und der Tross setzte sich auf Befehl aus der schwarzen Kutsche abermals in Bewegung.

 

[1] im 16. Jahrhundert eigentlich „Tocke“: herrschaftlicher Großhund, Vorläufer der Dogge

Musik Ende Episode 12: ES_The Farewell Serenade – Howard Harper-Barnes
https://www.epidemicsound.com/track/yen8Z1jZp0/