Episode 13 Des Teufels Finger I - Lügengespinst
Fortsetzung Kapitel 3
Im Wald inmitten der Alta Langa, Anfang August 1557
Edelfa hatte sich nach ihrem Sprung vom Fuhrwerk blitzschnell seitwärts ins Gestrüpp gerollt. Dort drückte sie sich an den Erdboden und lauschte, ob ihretwegen Stimmen laut wurden. Doch im Durcheinander, weil das Gefährt in eine riesige Schlammpfütze gekippt war, blieb ihre Flucht tatsächlich unbemerkt.
„Du musst dich beeilen!“, hämmerte sie sich trotzdem zu. „Gleich werden sie den Karren aus dem Schlamm ziehen wollen und die Gefangenen müssen sicher aussteigen!“
So leise, wie sie im raschelnden Laub vermochte, kroch sie schnell zu einem kleinen Hügel. Dahinter sprang sie auf und rannte in den Wald. Ohne zu wissen, wohin. Sie orientierte sich allein an den immer weniger werdenden Geräuschen in ihrem Rücken.
Erschöpft wie sie sich nach all den erlittenen Torturen fühlte, musste sie schon nach kurzer Zeit innehalten. Mit nach vorn geneigtem Oberkörper und auf die Knie gestützten Händen rang sie nach Atem. Unterdessen sah sie sich um und lauschte.
„Nein, niemand.“ Fast ungläubig, dass ihr die Flucht anscheinend wirklich gelungen war, wollte sie erleichtert aufseufzen. Zeitgleich holten sie die Worte dieses Lauro ein:
Vor dem Hund hatte er sie gewarnt. Und vor der Gegend. Dass sie darin verloren wäre, allein. Wie hieß diese noch?
Planlos, wie sie aus dem Gefährt gesprungen war, wollte Unruhe in ihr aufsteigen. Schnell richtete sie sich auf. „Jetzt nur nicht den Kopf verlieren! Freue dich! Schließlich bist du diesem arroganten Gockel und seiner greulichen Mutter entkommen! Von wegen – Braut ohne Mitgift! Also…“ Sie atmete tief durch und fasste sich. „Zuerst der Hund. Du musst ihm deine Spur nehmen. Wie… Mit Wasser! Durch einen Bach!“
Edelfa strengte ihre Ohren an, ob sie vielleicht das Rauschen eines Gewässers vernähme, doch sie hörte nichts dergleichen. Deshalb schloss sie ihre Augen, um sich noch intensiver auf ihr Gehör zu konzentrieren: Nichts. Kein Wasser plätscherte.
Stattdessen verspürte sie plötzlich heftigen Durst und ihre Gedanken entglitten ihr. Sie lechzte förmlich nach dem erhofften kühlen Bach, von dessen Grund ihr die Steine wie magisch entgegenleuchteten…, und das köstliche Nass, welches aus ihren Händen rann, die Sonnenstrahlen glitzernd reflektierte…
„Nein, nein! Vorwärts! Dann eben in die Luft, weg vom Boden!“ Energisch riss sich Edelfa aus ihren Wunschgedanken. Sie öffnete die Augen und ließ ihre Blicke erneut durch die Gegend schweifen. Hinter ihrer Stirn arbeitete es fieberhaft…
„Das ist die Lösung!“ Nach ihrem spontanen Einfall huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie maß die umliegenden Bäume mit den Augen ab und eilte zu einem, dessen unterste Äste bis zu ihr reichten.
Vor diesem Baumstamm ging sie in die Knie, schob mit ihren Händen eilig das Laub zur Seite und begann, eine Vertiefung in den weichen Waldboden zu wühlen.
Als ihr diese für ihr Vorhaben tief genug erschien, zerrte sie sich das Korsett vom Leib. Sie warf das Wäschestück in die kleine Grube und bedeckte es mit reichlich Erde. Zuletzt tarnte sie ihr Versteck mit dem beiseitegeschobenen Laub. „Das sollte klappen! Jetzt in die Luft!“
Edelfa fasste ins Geäst über ihr. Sie zog sich auf den Baum und kletterte in die Höhe.
Noch so nah am Boden, dass sie, falls sie abstürzte, sich nicht ernstlich verletzte, griff sie nach einem Ast über ihrem Kopf. Daran sicherte sie sich mit den Händen, während ihre Füße sich auf dem Ast unter ihr in Richtung des nächststehenden Baumes tasteten. In dessen Reichweite ließ sie eine Hand los, streckte sich zu ihm und verkrallte sich flugs in seinem Geäst.
Unter einem Stoßgebet holte sie Schwung – und eine Schrecksekunde später hatten ihre Füße auf dem zweiten Baum Halt gefunden.
Anschließend wiederholte sie diesen Kraftakt so oft, bis ihr ihre zitternden Knie förmlich zuschrien, dass sie sich von ihrem vergrabenen Korsett weit genug entfernt hätte und es dem schwarzen Hund unmöglich sei, ihre Fährte weiter zu verfolgen.
Edelfa verharrte auf dem just erreichten Baum. Sie richtete ihren Blick nach oben und zufrieden stellte sie fest, dass sie die Baumkrone durch das Blätterdickicht über ihr nicht ausmachen konnte. Langsam kletterte sie aufwärts.
Umso höher sie stieg, desto mehr schwankte der Baum im zunehmenden Wind. Um sie herum wurde es immer heller und immer weiter öffnete sich ihr der Ausblick in die Landschaft. Weil aber mittlerweile die Äste derart schmächtig wurden, dass es ihr zu gefährlich erschien, noch höher zu steigen, hielt sie inne.
Sie umklammerte den Baumstamm und ließ sich rittlings auf dem Ast zu ihren Füßen nieder. Vorsichtig spähte sie nach unten und wiederum war sie zufrieden:
Gleichsam, wie sie zuvor die Baumkrone nicht erspäht hatte, würde man sie vom Boden aus ebenso nicht mehr entdecken können.
Schon wollte sie restlos erschöpft ihre Augen schließen, als neue Zweifel in ihr aufschossen. „Dein weißes Unterkleid! Es leuchtet sicher wie eine Signalfahne!“
Nein, sie durfte sich noch nicht entspannen. Noch galt es, das Kleid abzustreifen, auch wenn sie dann völlig nackt war.
Edelfa bündelte ihre letzten Kräfte. Vorsichtig löste sie ihre Arme vom Baumstamm, willens, ein Stück weit von ihm abzurücken ohne ihr Gleichgewicht einzubüßen.
Schnell ließ sie davon ab. Ihr gelang nicht, sich allein mit den Beinen sicher auf dem Ast zu halten. Also blieb ihr nur, sich ihr Kleid einhändig vom Leib zu zerren, um sich auch jetzt am Baumstamm festzuhalten.
Mühsam schob sie ihre Arme nacheinander aus den Ärmeln. In Angst, der böige Wind würde ihr das Hemd aus der Hand reißen, zog sie es sich über den Kopf, um es dann eiligst zwischen die Baumrinde und ihren Bauch zu stopfen.
Unter einem tiefen Ausatmen löste sich ihre Anspannung. Ihre Augen schlossen sich. Ihre Stirn sank an den Baumstamm, unterdessen ihn ihre beiden Arme haltsuchend umfassten.
Edelfa kommunizierte mit dem Baum, im aufkeimenden Gefühl von Alleinsein. Von Hilflosigkeit. Von Verzweiflung.
Wegen ihrer aufsteigenden Tränen biss sie die Zähne zusammen. Sie öffnete ihre Augen, hob ihren Kopf und begann, sich umzusehen. Was sie erblickte, tröstete sie aber nicht. Im Gegenteil. Von dem, was sich ihr eröffnete, erschauerte sie. Ungläubig strengte sie ihre Augen an, wieder und wieder. Trotzdem. Ihre Aussicht blieb stets die gleiche:
In welche Himmelsrichtung sie auch spähte, sie war umschlossen von einem einzigen grünen Meer aus Hügeln. Menschenleer und bar jeder Ansiedlung…
Der Wind, der sie nun, da sie sich nicht mehr bewegte und obenauf unbekleidet war, frieren ließ, steigerte ihre Resignation. Dem nicht genug, meldete sich mit aller Macht ihr Durst zurück.
„Oh Gott“, schluckte sie aus trockener Kehle. „Lässt dich der kalte Wind nicht erfrieren, so wirst du verdursten und verhungern, noch bevor du jemals wieder ein menschliches Antlitz erblickt hast. Wohin bist du nur geraten?“
Einmal mehr hatte sie die Warnung dieses Lauro in den Ohren. Edelfa meinte, jetzt wirklich zu weinen:
Adelssöhne waren es gewesen, in Not wie sie. Hätte sie die offensichtlich wohlgemeinten Ratschläge beherzigt, wäre sie jetzt nicht allein. Wenngleich nicht mehr diesem schwarzen Teufel, so war sie jetzt seiner ihr teuflisch erscheinenden Heimat ausgeliefert.
Entmutigt lehnte Edelfa ihre Stirn zurück an den Baumstamm. Mit geschlossenen Augen ergab sie sich der Unbarmherzigkeit des Windes und dem Wanken des Baumes. In ihren schweren Gedanken überkam sie die Versuchung, vom Baum zu steigen, bevor sie restlos vor Kälte erstarrte und am Ende zu Tode stürzte…
Hufgetrappel riss sie aus ihrer Verzweiflung und ließ ihre Lebensgeister wieder erwachen.
Mit prüfendem Blick, dass ihr Unterkleid von ihrem Bauch noch ausreichend verdeckt war, presste sie sich fest an den Baumstamm und lauschte.
Doch nicht die ersehnte Hilfe hörte sie. – Er war es.
—
Emanuele hatte Schultermantel und Wams in der Kutsche seiner Mutter zurückgelassen. Er ritt im bloßen Hemd. Auf diese Weise ließ er sich vom für die Gegend typischen und ihm vertrauten Wind sein überhitztes Gemüt abkühlen.
Als auch sein heftiger Zorn verrraucht war, schickte er Rufe zur Dogge, der er hinterhergaloppierte. „Heute kannst du dir dein Futter verdienen, du übelriechender Flohteppich!“
Obwohl er Nero im Grunde nicht mochte, war er in diesem Moment über dessen Anwesenheit ausnahmsweise dankbar. Schier aussichtslos wäre nämlich seine Suche ohne die Hundenase und er hatte Angst, die junge Frau nicht wiederzufinden, bevor ihr etwas zustieße. Unbarmherzig konnte seine Heimat sein in ihrer Einsamkeit und Weite, dem rauen Wind, den Wildtieren…
Und auch wenn es ihn entsetzte, dass sie sich vor den Männern ausgekleidet hatte, gab sie ihm damit jedoch den roten Faden in die Hände, auf den er so dringend angewiesen war:
Nero witterte pausenlos und seine Zuversicht, sie bald gefunden zu haben, wuchs. Weit konnte sie nicht sein…
Noch während er sich auf sie freute, stoppte der Hund. Er schlug an und wühlte wie wild in der Erde. Verwundert stieg Emanuele vom Pferd und sah sich um:
Nichts. Keine Spur von ihr. Kein Leuchten ihrer Kleidung, was immer sie auch noch trug. Irgendetwas musste sie schließlich noch tragen. Und natürlich auch kein Hauch ihres feinen Rosengeraniendufts, der so verführerisch auf ihn wirkte.
„Was hast du jetzt wieder, du hässliches Ungetüm?“ Entschieden ging er auf die scharrende Dogge zu. Dabei musste er sich mit den Händen wenigstens den Kopf schützen, denn die Hundepranken schleuderten feuchte Erde und Steine kraftvoll durch die Luft.
Mit zur Seite gedrehtem Gesicht streckte er eine Hand nach dem Hund aus, um ihn zu maßregeln. Infolgedessen konnte er ihm, völlig unerwartet, geradeso ein Wäschestück aus dem Maul reißen. Einen Atemzug später wäre Nero entwischt. Knurrend. Seine Beute zwischen den Zähnen schüttelnd.
Überrascht klopfte Emanuele die Erde von dem Kleidungsstück, das er als Korsett einer Dame identifizerite. Er hielt es sich vor die Nase und schnüffelte. Zuerst vorsichtig, dann zunehmend intensiv: Kein Zweifel! Rosengeranien!
Wieder sah er sich um:
Nichts! Seine Gedanken rasten. „Verdammt, Taube, vergräbst hier deine Wäsche! Wie soll ich dich jetzt finden?!“ Emanuele fluchte. Hilfesuchend sah er zu Nero. Der näherte sich in erneuter Hoffnung auf seine Beute, ohne an anderer Stelle weiterzusuchen.
Gedankenversunken ließ Emanuele die Hand mit dem Korsett sinken. In seiner aufsteigenden Angst und Ratlosigkeit kraulte er den mächtigen Hundehals.
„Hat sie uns überlistet, die Taube“, ächzte er, geneigt, dem Hund die Beute zu überlassen. Nur einmal noch wollte er daran riechen.
„Taube…“ Schon verabschiedete er sich von ihrem Duft. Plötzlich riss es ihm förmlich die Augen auf:
„Taube!!“ Flüsternd ging Emanueles Blick gen Himmel. Augenblicklich kehrte seine Zuversicht zurück und dieser mischte sich Belustigung hinzu. „Warte“, frohlockte er. „Irgendwann musst du herunter von deinem Baum, so wenig wie du wohl noch am Leib trägst.“
Jetzt würde er sie überlisten! In ihm begann es zu kribbeln. Eben noch purer Ernst, schien ihm seine Suche nun eher ein Spiel – aufregend, reizvoll, der Gewinn eine einzige Verlockung…
„Umsonst, Nero. Komm! Sie war schlauer als wir beide zusammen“, rief er laut in die Baumkronen und drehte sich, damit der Wind seine Rufe in alle Richtungen trug. „Lass uns zurückreiten! Mutter wartet!“
Betont geräuschvoll bestieg er seinen tänzelnden Araberhengst und galoppierte etwas abseits. Leise stoppte er dort das Pferd. Er beruhigte es nachdem er abgestiegen war und fixierte die Zügel an einem Ast. Der Dogge ihr Korsett überlassen, band er auch den Hund an einem Baum fest und gebot ihm Platz.
Mit einigen Stricken in der Hand schlich er zur Fundstelle zurück. In fast diebischer Vorfreude duckte er sich ins Gebüsch und lauerte.
—
Als Edelfa seine Stimme erkannt hatte und dazu das Hundegebell vernahm, meinte sie, ihr bereits gefühlt eiskaltes Blut in den Adern würde ihr gänzlich erstarren. Umso erleichterter vernahm sie, wie er seine Suche nach ihr anscheinend aufgab und davongaloppierte.
Um sicherzugehen, wartete sie noch eine Weile. Aber dann trieb sie der Wind endgültig zurück zum Boden. Unschlüssig, ob sie versuchen sollte sich anzukleiden, nahm ihr eine weitere Windböe die Entscheidung ab:
Sie würde sich unten wieder anziehen. Sie musste jetzt, wo sie sich zudem steif vor Kälte fühlte, froh sein, das Kleid nicht einzubüßen.
„Oh, Madonna! Nackt wie Eva! Nur war sie im Paradies, zusammen mit ihrem Adam.“ Seufzend schaffte Edelfa es, sich das Kleid wenigstens um den Bauch zu gürten. In dieser Aufmachung begann sie ihren Abstieg.
Heilfroh, ihre Kletterpartie überstanden zu haben, setzte sie kurz darauf an, vom Baum hinabzuspringen. Bloß unterschätzte sie dabei Wind und Schwerkraft. Jedenfalls rutschte ihr das Kleid vom Leib und war einige Meter weggeweht, noch bevor sie überhaupt auf der Erde ankam. Geschockt und steif stürzte sie ihrem letzten Kleidungsstück unbeholfen hinterher – und erschrak sich beinahe zu Tode:
Lächelnd trat Emanuele hinter einem Baum hervor und bückte sich danach.
„Ihr… ich…“ Edelfa stammelte mit aufgerissenen Augen, unfähig sich ihm augenblicklich zu entziehen.
Ohne die erkennbare Absicht, ihr das Kleid zu reichen, näherte er sich.
„Taube…“ Emanuele hauchte, schluckte, und mit einem leisen Aufstöhnen blieb ihm sein Mund halboffen.
Edelfa stand wie angewurzelt. In ihrem Schock reagierte sie erst Atemzüge später, indem sie begann, sich zumindest mit ihrem Haar zu bedecken. Hektisch zerrte sie an der Perlenschnur und schüttelte den Zopf, den er ihr geflochten hatte, auseinander. Sie fasste zu ihren langen Strähnen und suchte, gleich einem Umhang, unter ihnen Schutz.
Noch immer sprach Emanuele kein Wort und verschlang sie mit seinen blitzenden grünen Augen. Wie gebannt starrte er auf ihre Brüste, die sich im Wind nicht mit ihrem Haar verbergen ließen, sondern davon eher umschmeichelt wurden. Mit einer Hand haschte er nach einer ihrer Locken, welche die nächste verräterische Windböe ihm zuwehte. Entrückt nahm er sie zwischen seine Finger und roch daran.
Edelfa rang nach Luft. Fassungslos wegen seiner unverblümten Begehrlichkeit obsiegte ihre Wut. Sie ließ ihr Haar los, stieß seinen Arm energisch zurück und riss ihm das Kleid aus der Hand. Blitzschnell streifte sie es über, nutzte seine andauernde Verzückung und sprang ins Gebüsch. Danach rannte sie, was ihre Beine hergaben.
Musik: ES_Underlying Truth – Howard Harper-Barnes
https://www.epidemicsound.com/track/PPq7nXwCst/