Episode 15 Des Teufels Finger I - Lügengespinst
Fortsetzung Kapitel 3
Palazzo di Atella nahe Neapel, Anfang August 1557
Nach quälenden Tagen der Ungewissheit stürzte ein verschmutzter und verschwitzter Kurier in den Palazzo di Atella. Er begehrte, sofort den Conte di Frattamaggiore zu sprechen, der, ob der überbrachten Nachricht, kraftlos zu Boden sank.
Entsetzt nahm Camilla ihrem Gatten den Brief des Marchese Oreste d‘Alfero aus seinen Händen und las:
Nie hatte Edelfa sein Castello im Monferrato erreicht. Auch die zum Schutz ausgesandten Männer blieben verschollen. Seine Bemühungen, Edelfa zu suchen, waren vereitelt, denn im Piemont war tatsächlich wieder Krieg ausgebrochen. Französisches Heer wütete, tötete, gewann, nahm sich, ungefragt des Standes und der Herkunft, die Menschen reihenweise als Gefangene und verschleppte oder verkaufte sie nach sonstwo. Völlig ungewiss war nun ihr Schicksal…
„Was habe ich getan!“, weinte Camilla. „Mein Kind, meine geliebte Edelfa! Ich habe sie ins Unglück gestürzt! Gott wird mich dafür strafen…“
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Auf Burg Cortemilia am 04. August 1557
Als man Burg Cortemilia endlich erreichte, war die Abenddämmerung längst heraufgezogen.
Emanuele, den Hengst einem Pferdeknecht übergeben, eilte zur Kutsche seiner Mutter und half ihr beim Aussteigen. Danach spähte er ins halbdunkle Kutscheninnere:
Ohne eine Regung, noch immer an Händen und Füßen gebunden, lag Edelfa mit geschlossenen Augen in den Polstern.
„Schläft sie etwa schon?“, erging die Frage an seine Mutter.
„Nein, Emanuele. Noch immer wirkt das Gift.“
„Nun, dann hoffe ich sehr, du hast ihr nicht geschadet, mit deinem Gift.“
„Was, bitte, hätte ich sonst tun sollen? Du schienst mir Samthandschuhe angezogen! Ein kräftiger Schlag von dir und sie…“
„Sie“, betonte Emanuele und fiel seiner Mutter energisch ins Wort, „wird nicht mehr geschlagen. Nicht unter meinem Dach! Strafe ja, wenn es sein muss. Aber keinesfalls Schläge!“
Emiliana winkte ab und Emanuele lenkte ein.
„Kümmerst du dich um unsere Taube? Ich lasse die Männer ins Verlies bringen. Und, bitte“, sah er eindringlich zu ihr, „sei gut zu ihr. Sie hat nun wahrlich genug gelitten.“
„Sei beruhigt, mein Sohn. Ich sorge für die stolze Neapolitanerin. Doch hernach gehe ich zu Bett. Ich bin sehr müde. Und dir würde baldiger Schlaf auch nicht schaden.“
Nachdem Emanuele sich weit genug von der Kutsche entfernt hatte, begann Emiliana mit Blick auf die junge Frau zu grummeln.
„Emanuele ist gut. Meint er etwa, ich könne zaubern? Wo, bitte sehr, soll ich unser hochwohlgeborenes Edelfräulein unterbringen? Burg Cortemilia ist auf Damenbesuch nicht vorbereitet.“
Bereits während der Rückfahrt war Emiliana die Wohngemächer der Burg gedanklich durchgegangen. Dementsprechend wusste sie, dass kein Zimmer zur Verfügung stand, welches eine junge Dame hätte beherbergen können. Neben ihren und den Gemächern ihres Sohnes gab es nur noch einen Salon im Erdgeschoss, den man für unvermeidliche Empfänge möbliert und gepflegt vorhielt. Ansonsten ließ man die vielen ungenutzten Gemächer leer stehen, ohne diese zu säubern oder zu lüften. Wofür auch?
„Ach was“, wischte Emiliana ihre Bedenken beiseite. „Hat sie wer weiß wie viele Tage in Gesellschaft der stinkenden Franzosen verbracht, so werden ihr einige Nächte auf einem ehrlichen Strohsack auch nicht schaden.“ Umso eher wäre zudem ihr Stolz gebrochen und sie täte ihrem Sohn damit nur einen Gefallen.
Mit dieser Gutheißung sah Emiliana zum Burgturm. Sie winkte nach einem Diener und wies ihn an, die junge Frau auf seine Arme zu nehmen. Dann schritt sie, einen Kerzenleuchter in der Hand, vor ihm die Treppe zum Turm hinauf.
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Die Hoffnung der Gefährten, zumindest die von Lauro und Vicenzo, die junge Neapolitanerin auf der Burg wiederzusehen, erfüllte sich nicht. Von dem Tross bekamen sie, als man sie auf dem düsteren, von einer hohen Burgmauer umschlossenen Hof vom Fuhrwerk trieb, einzig den schwarzen Hund zu Gesicht, der neugierig an ihnen herumschnüffelte.
Hernach führte man sie durch eine schwere Eisentür ins Burginnere. Über einen finsteren, mit wenigen Fackeln erleuchteten Gang erreichten sie eine Treppe, deren unteres Ende nicht absehbar war. Den schweren Eisenketten und ihrem Hunger geschuldet, stiegen sie mühsam die etlichen Steinstufen nach unten, um sich dann in einem düsteren Burgverlies wiederzufinden. Von faulendem Strohdunst durchdrungene, muffige Luft stieß ihnen dort entgegen und nackte, feuchte Felswände ließen unangenehme Kälte in ihre Körper kriechen.
„Da haben wir es“, knirschte Korbinian, der sich auch gegen diese Wächter wehrte, die mit Peitschenhieben vergeblich seine schweren, langsamen Tritte zu beschleunigen suchten. „Jedes Rattenloch ist gemütlicher.“
Trotzdem gab dieses gruselige Ambiente den Gefährten nicht Anlass, mit weniger festen Schritten das von Fackeln leidig beleuchtete Gewölbe zu durchschreiten. Mit Blicken aufeinander machten sie sich Mut und lediglich Maurizio und Fabrizio klammerten sich, so gut es ging, zitternd aneinander.
Emanuele, der hinter ihnen im Verlies auftauchte, erteilte Befehle.
„Diesen“, tippte seine Reitpeitsche an Korbinian, „hier hinein und am Hals anketten.“ Seine Hand wies auf einen mit besonders schweren Eisenstangen vergitterten Kerker. Er lag nahe einer Nische, die den Wächtern scheinbar zum Aufenthalt diente, was ein schwerer Holztisch und mehrere Schemel nahelegten.
Damit wurde Korbinian als erster von den Gefährten abgetrennt. Man bugsierte ihn gegen seinen Widerstand in jenen Kerker und legte ihm einen massigen Eisenring um seinen Hals. Anschließend schlug man ihm mit einem Knüppel derb in die Kniekehlen, wovon er zusammensackte. Diesen Schwächemoment ausgenutzt, wurde er von den Wächtern an einem Eisenring am Boden in einer Weise angekettet, dass er kaum noch aufrecht stehen konnte. Obenauf beließ man seine Hände und Füße im Eisen.
Nachdem der Hüne also gesichert war, drängte man die beiden schlotternden Cousins mitsamt Francesco und Niccolò in den Kerker neben Korbinian. Gemeinsam wurden sie dort eingesperrt, ohne sie zusätzlich anzuketten. Im Gegenteil. Sie kamen sogar in den Genuß, von den schweren Eisenketten befreit zu werden.
Auf Lauro und Vicenzo dagegen warteten keine Annehmlichkeiten. Man stieß sie weiter durch den zunehmend dunkleren Gang des Verlieses, der niedriger, kälter und furchteinflößender wurde.
„Hier hinein, die Grafensöhne“, wies Emanuele die Wächter an, als sie das Ende des Gangs erreicht hatten. „Stellt sie an die Wand, denn mir scheint, ihnen liegt das Aufrechte“, fügte er trocken hinzu.
Mit einem abmessenden Blick in die herablassend an ihm vorbeisehenden Antlitze der zwei Freunde verfolgte er, wie man seinen Anweisungen nachkam:
Lauro und Vicenzo wurden durch das feuchte Stroh gezerrt, um sie dann stehend an gegenüberliegenden Wänden mit ihren Händen in Kopfhöhe festzuketten. Lediglich die Eisen an ihren Füßen wurden ihnen abgenommen.
Damit wandte Emanuele sich ab.
„So“, resümierte er mit Genugtuung, unterdessen er die Gittertür absperrte. „Im Stehen könnt ihr von ihr träumen. Noch. Auch bald vorbei, eure Freundschaft…“
Mit seinem Weggehen folgten ihm die Wächter, die nacheinander die Wandfackeln löschten. Demenzufolge umfing die beiden Freunde völlige Dunkelheit und nach dem Verhallen der Schritte auf dem Gang drangen die Stimmen der Wächter, neben Korbinians Protesten, nur noch gedämpft bis zu ihnen.
„Vicenzo“, versuchte Lauro seinen Freund in der Finsternis auszumachen. „Bist du in Ordnung?“
„Ja“, kam zur Antwort, gefolgt von Kettenrasseln. „Dieser elende Bastard! Lässt uns stehen! Das wird eine Nacht, Lauro!“
„Es tut mir leid. Ich habe ihn herausgefordert und jetzt bezahlst du mit für mein Handeln. Sicher vermutet er, dass ich es war, der ihr geholfen hat.“
„Er vermutet es nicht nur. Glaube mir, er weiß es. Er scheint allzu eifersüchtig auf dich. Aber lasse es gut sein. Schuld bist nicht du, sondern dieser verfluchte Krieg ist es. Du tatest gut daran, ihr zu helfen. Auch war es unsere Pflicht, schließlich hatte sie uns gebeten. Was mir einzig Sorge bereitet, ist unsere Ungewissheit darüber, was man mit uns vorhat. Ich glaube nämlich nicht wirklich daran, dass wir ihm dienen sollen. Nie würden wir dies tun. Auch dies weiß er mit Sicherheit.“ Vicenzo seufzte schwer.
Lauro gab seinem Freund recht. Auch in ihm stieg tiefes Unbehagen auf. Mit aller Härte wurde ihm ihre Hilflosigkeit bewusst, vor allem, wenn er an die junge Frau dachte. Was man mit ihr vorhatte, war offensichtlich, und Hilfe vermochten sie ihr nicht zu bieten. „Wie können wir jemals von hier fliehen, Vicenzo? Wie nur…“
Lauro bereute zutiefst, dass er sich mit seinen Fluchtgedanken nicht durchgesetzt hatte, als sie noch den freien Himmel über sich und die junge Frau in ihrer Nähe hatten, im Wald, auf dem Gespannwagen. Jetzt an Flucht zu denken, war aussichtslos!
Vicenzo antwortete nicht. Aber Lauro hörte sein Aufstöhnen, hörte daneben plötzlich ein Rascheln. Ein Schwall von Gestank fauligen Strohs drang zu ihm und da war noch ein anderer Geruch…
„Oh Gott, hörst du es, Vicenzo? Nicht auch noch Ratten! Wir können uns gegen sie nicht wehren!“
„Ich bin immer noch ein Mensch. Auch wenn ich längst eine Ratte sein könnte“, krächzte es mit leiser Stimme aus der hinteren Ecke des Kerkers, noch bevor Vicenzo sich geäußert hatte.
„Wer ist da, zum Teufel?“ Lauro spähte ins Dunkel, ohne etwas zu erkennen. „Wer seid Ihr? Nennt uns Euren Namen!“
„Don Sebastiano di Cortemilia“, räusperte sich die Stimme frei und antwortete. „Herr und Besitzer von Burg Cortemilia. Wohlhabender, angesehener Adel alter Linie“, wurde majestätisch angefügt. „Versündigt, überlistet, entehrt, gedemütigt. Vor Jahrzehnten eingekerkert von der selbsternannten Burgherrin.“ Das Rascheln kam näher.
„Di Cortemilia? Herr und Besitzer? Überlistet? Entehrt? Eingekerkert vor Jahrzehnten? Wie kommt es, dass Ihr hier seid? Habt Ihr etwa in der Familie gemeuchelt“, meldete sich Vicenzo. Bestätigte sich etwa seine düstere Vorahnung, was Mutter und Sohn betraf?
„Oh, gemeuchelt nicht“, fuhr die Stimme, nun ganz nah bei ihnen, fort. „Aber es ist eine lange Geschichte, denn ich bin hohen Alters, mittlerweile, meine Söhne. Erlaubt, dass ich Euch so anspreche, denn Ihr klingt, als ob Ihr dies sein könntet. Nun nennt mir bitte Eure Namen.“
„Ich bin Lauro di Montemano und mein Freund heißt Vicenzo di Fossano.“
„Ah, zwei piemontesische Adelssöhne! Und ich dachte zuerst, dem Geruch nach zu urteilen, Ihr seid gewöhnliche Viehdiebe. Doch, Euer Gespräch belauscht, belehrtet Ihr mich eines anderen. Sagt mir, wie kommt Ihr in dieses Verlies? Hat man Euch etwa auch überlistet? Es würde mich nicht wundern.“
„Nein, überlistet wurden wir nicht. Gekauft sind wir, als Sklaven. An der Seite des Marchese de Pescara haben wir die Stadt Cuneo siegreich von französischer Belagerung befreit. Aber auf dem Heimweg fiel man uns in den Rücken, nahe Savigliano. Dort gerieten wir in Gefangenschaft und wurden auf unserem unfreiwilligen Weg vom Schlachtfeld nach Monforte d‘Alba in einem Ziegenstall eingepfercht. Nun sind wir hier, verschleppt von zwei schwarzgekleideten Herrschaften, wohl Mutter und Sohn.“
„Oh, es tut mir sehr leid für Euch. Ihr seid hoffentlich unverletzt?“
„Ja“, hauchte Lauro zurück. „Das sind wir…“ Gedanken an Fausto durchfuhren ihn.
„Mein Sohn, du klingst dennoch, als ob ein Schmerz in dir wütet.“
Augenblicklich begann Lauro zu schluchzen.
„Seinen kleinen Bruder, Conte di Cortemilia, den hat man getötet, in der Schlacht“, flüsterte Vicenzo.
Für einen Moment herrschte betroffenes Schweigen, unterbrochen von Lauros Schluchzen und Schniefen. Angekettet wie er war, konnte er sich weder Augen noch Nase abwischen. Don Sebastiano schien es zu erraten, denn man hörte, wie er sich vom Boden aufgerappelt haben musste. „Nicht, mein Sohn, weine nicht.“
Lauro spürte kratziges Stroh in seinem Gesicht wischen, nachdem ihn kalte knochige Hände abgetastet hatten. „Irgendwann erinnerst du dich voll des Dankes an die Zeit, die Euch unser Herrgott schenkte. Glaube einem alten leidgeplagten Mann.“ Abermals fassten die Hände in Lauros Gesicht, prüfend, dass keine weiteren Tränen rollten. „Auch müsst Ihr jetzt Eure verbliebenen Kräfte einteilen, bei dem, was Euch hier erwartet.“
„Ihr wisst es??“
„Ja“, kam ein einziges Wort zurück. Die Stimme hatte sich wieder in Richtung der Ecke, aus der sie gekommen war, entfernt.
„Wird man uns töten? Sagt es uns, bitte! Allzu unheimlich scheinen uns diese Herrschaften, so ganz in Schwarz wie der Tod!“ Vicenzo flehte innig.
„Pah, Herrschaften ist gut! Dies sind keine Herrschaften, wahrlich nicht! Zumindest nicht diese selbsternannte Burgherrin! Der Sohn dagegen…“
Den Satz nicht mehr beendet und die ersehnte Antwort schuldig geblieben, trat Stille ein. Gerne hätten die Gefährten mehr über ihre neuen Besitzer erfahren. Allein, die Stimme schien einem Greis zu gehören und der Respekt gebot es Lauro und Vicenzo, keine weiteren Fragen zu stellen.
„Lass uns versuchen, etwas zu schlafen, Lauro. Morgen erfahren wir sicher mehr. Vielleicht ist uns das Schicksal gewogen. Ich werde dafür beten. Gute Nacht.“
„Ja, Vicenzo, gute Nacht.“
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Im Verlies von Burg Cortemilia, Am nächsten Morgen, den 05. August 1557
Ein heftiger Schmerz in seinen Armen ließ Lauro aufstöhnen:
Im Drängen seines Körpers, sich hinlegen zu wollen, war er in leichtem Schlummer in die Knie gesunken. Mühsam rappelte er sich auf und schüttelte seine kraftlosen Beine in der Hoffnung, einströmendes Blut würde neue Energie spenden.
Im schwachen Morgenlicht, das durch eine kleine Maueröffnung hereinschimmerte, sah er sich um:
Nichts als nackter Stein umschloss sie, dazu ein schweres Eisengitter, das den Kerker sicherte. Ihr einziger Komfort bestand aus grauem, fauligem Stroh.
Lauro versuchte, etwas von den anderen Gefährten zu erspähen. Vergeblich. Unweit ihrer Zelle wand sich der Gang in einer Kurve, die die Blicke abschottete. Lediglich ein gegenüberliegender Kerker war zu sehen, doch außer dem gleichen fauligen Stroh am Boden war er leer.
„Kein Viehstall ist schlimmer“, seufzte Lauro und äugte zu seinem Freund:
Vicenzo stand unweit von ihm an der jenseitigen Mauer, ebenso mit den Händen in Kopfhöhe angekettet. Sein Kinn war auf die Brust gesunken und er schien zu schlafen.
In Erinnerung an die Greisenstimme suchte Lauro mit aufkeimender Hoffnung nunmehr nach dessen Körper, aber er konnte ihn nicht ausmachen. Bloß ein kleiner Haufen Stroh türmte sich in der hintersten Ecke des Kerkers, den man geradeso erkennen konnte. Kaum ein Lichtstrahl reichte noch dorthin, unter die schräg abfallende Wand, die wohl zur Außenmauer gehörte.
Das Hallen sich nahender Schritte unterbrach seine Suche.
„Wach auf, Vicenzo!“, raunte er besorgt zum Freund, wobei er seinen Blick erneut auf den Strohhaufen richtete. Doch nach wie vor regte sich dort nichts. Am Ende hatte er von dem Greis nur geträumt, in einer Wunschvorstellung, vielleicht einen Helfer gefunden zu haben, in ihrer verzweifelten Lage…
Die sich mit lautem Quietschen öffnende Kerkertür riss Lauro jäh aus seinen Gedanken und vom Anblick der zwei eintretenden Wächter erschauerte er. Anders als am Vortag waren sie nicht nur pechschwarz gekleidet, zu ihren ausladenden Hüten, unter denen sie ihre Gesichter verbargen. Jetzt verhüllten sogar schwarze Masken ihre Antlitze…
Schweigend traten jene Gestalten zu Vicenzo und Lauro musste tatenlos zusehen, wie man dem Freund, der nur langsam erwachte, in die Haare fasste und seinen Kopf derb ins Genick drückte.
Angstvoll ballte Lauro seine Fäuste. Zu seiner Erleichterung löste man jedoch Vicenzos Hände von der Wand, schloss die Eisen hernach aber wieder vor seinem Leib. Danach ließ man ihn ins Stroh sacken. Wenig später rutschte auch Lauro in gleicher Weise entkräftet zu Boden.
Ohne ein Wort stellte man zwei Eimer, einen leeren und einen mit Wasser gefüllten, im Kerker ab. Danach wurde die Gittertür verschlossen und die Wächter entfernten sich wieder.
Froh darüber, dass Vicenzo seinen Kopf gehoben und ihm zugewandt hatte, kroch Lauro zu ihm.
„Keine Angst, Lauro“, kam es erschöpft aber lächelnd. „Alles ist gut. Bis auf mein dringendes Bedürfnis…“
Fürsorglich griff Lauro nach dem leeren Eimer und kurz darauf hörte man erleichtertes Stöhnen. –
Das Wasser im anderen Eimer befanden sie als frisch. Gierig schöpften sie mit ihren Händen und tranken, wussten sie beide nicht mehr, wann sie das letzte Mal ihren Durst gestillt hatten.
„Conte di Cortemilia, habt Ihr nicht auch Durst?“ Unvermittelt fragte Vicenzo in Richtung der Ecke, in der sich der kleine Strohhaufen türmte.
„Ich habe nicht geträumt…“
„Wieso geträumt, Lauro?“ Vicenzo drehte sich verwundert kurz zu ihm, dann rutschte er mit dem Wassereimer in Richtung des sich regenden Strohs.
„Guten Morgen, meine Söhne“, ließ sich der Greis nun sehen.
Erschrocken über seine ausgemergelte Gestalt, die in abgerissenen Lumpen steckte, und sein überlanges, dünnes weißes Haar, kroch auch Lauro zu ihm. Vicenzo stützte den alten Mann und Lauro schöpfte Wasser in seine zitternden, knochigen Hände.
„Habt Dank für Euren Trost.“ Ein weiteres Mal füllte Lauro die bittenden Hände, die sich zu ihm streckten.
Einige Schlucke getrunken, lohnte ihnen der Greis ihre Hilfe mit einem seligen Blick aus trüben Augen. „Euch schickt mir der Himmel, nach so langer Zeit. Ich werde…“ Don Sebastiano brach mitten im Satz ab und wühlte sich eiligst in seinen Strohhaufen. Soeben schallte Emanueles Stimme auf dem Gang.
Ohne den Grund zu wissen, warum sich der Greis so hektisch versteckte, entfernten sich die beiden Freunde mitsamt dem Wassereimer ebenso eilig aus der Ecke. Mit dem Rücken zur Kerkertür begannen sie, sich mit bloßen Händen zu waschen. – Keinen Moment zu früh, den schon fühlten sie sich von Emanuele durch die Gitterstäbe betrachtet.
Wie Emanuele erwartet hatte, wurde er von den beiden Adelssöhnen ignoriert. Deshalb wandte er sich wortlos ab und ging.
„Ihr könnt hervorkommen“, raunten die beiden Freunde darauf in Don Sebastianos Ecke. „Er ist weg. Mögt Ihr Euch waschen?“ Abermals wurde der Eimer durch den Kerker gerückt und vier Hände halfen fürsorglich, bis wiederum Schritte auf dem Gang hallten.
Den Greis hastig ins Stroh eingewühlt, brachten die Wächter zu ihrer völligen Verblüffung Essen. Üppiges Essen. Brot, Geräuchertes, Käse, einen Topf voll Marmelade, mehrere Krüge gefüllt mit verdünntem Wein…
„Greift zu, meine Söhne! Aber vergesst den alten Mann nicht!“, frohlockte die Greisenstimme, und es dauerte nicht lange, bis von der unerwarteten Mahlzeit nicht der kleinste Krümel mehr übrig war.
„Hungern lassen sie Euch nicht“, sinnierte Don Sebastiano, während seine Finger noch immer genüsslich im längst geleerten Marmeladentopf herumwischten. „Schließlich brauchen Eure Körper Kraft für das, was Euch bevorsteht.“
Sein Blick wanderte zwischen den beiden Freunden, die sich einen Weinkrug untereinander zureichten. Sofort richteten sich deren Augen erwartungsvoll auf ihn. Deswegen ließ er vom Marmeladentopf ab und wurde tiefernst.
„Getötet werdet Ihr nicht“, beantwortete er nun Vicenzos Frage aus der letzten Nacht. „Jedenfalls nicht Eure Körper, dessen bin ich mir sicher. Aber Euer Leben werden sie dennoch an sich reißen.“
Fragend sahen sich Lauro und Vicenzo an. Sie verstanden nicht. Den Mund bereits geöffnet, um eine Erklärung zu erbitten, sprach Don Sebastiano unterdessen weiter.
„Ich habe bereut und ich habe bezahlt. Und vielleicht kann ich jetzt, am Ende meines Lebens, Euch das Eurige retten. Denn ich weiß, warum Ihr hier seid und was man mit Euch vorhat. Doch zuerst hört meine Geschichte.“
Musik : And We Will Rule – Bonnie Grace
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