Episode 20 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Finale Kapitel 3

Im Verlies auf Burg Cortemilia, noch immer am 08. August 1557

Erstaunt blickten sich die Freunde an, als sie plötzlich ihre Schreie durch das Verlies schallen hörten.
„Lasst mich los!“, schrie Edelfa aus voller Kehle. „Ihr verfluchten Teufelsanbeter! Ihr sollt eure schwefeligen Finger von mir lassen!“
Kurz darauf sahen sie sie:
Zwei Wächter, die sie gepackt hielten, folgten der schwarz verschleierten Hausherrin. Auf deren Befehl hin wurde sie grob in das leere Verlies neben ihnen gestoßen. Man legte ihre Hände in schweres Eisen, worauf die Gräfin, eine Reitpeitsche in der Hand, auf sie zutrat.
„So, du dummes stolzes Ding!“, zischte sie drohend. „In dein Himmelbett kommst du erst zurück, wenn du dich dem fügst, was dir bestimmt wurde! Bis dahin bleibst du hier bei Wasser und Brot! Meinetwegen bis du vermoderst!“
„So lange ich lebe, schulde ich Gehorsam meinem Gott und meinem Vater!! Aber nicht Euch und nicht Eurem Teufelssohn! Und niemals diesem hässlichen, gehörnten Ziegenkopf in seiner stinkenden Qualmwolke!“ Edelfa schleuderte ihre Worte durchs Verlies, dass es widerhallte.
Entsetzte Blicke wanderten zwischen Lauro und Vicenzo. Don Sebastianos Strohhaufen schien jeden Moment zu explodieren…
Hasserfüllt drehte sich Edelfa zu Emiliana um, die dicht hinter sie getreten war. Zu spät erkannte sie dabei, dass Emiliana bereits zu einem Schlag mit ihrer Peitsche ausgeholt hatte. Deswegen traf der für den Rücken bestimmte Hieb mit voller Wucht auf ihre Brust.
Der unerwartete, heftige Schmerz ließ Edelfa so sehr zusammenzucken, dass sie auf dem feuchten Stroh ausglitt. Behindert von den schweren Eisenketten an ihren Handgelenken, stürzte sie und ihr Kopf schlug ungebremst auf den Steinboden.
Über sich selbst erschrocken, ließ Emiliana die Peitsche sofort sinken. Sie bückte sich nach Edelfa und ihre Hand fasste in eine blutende Kopfwunde.
„Verzeih mir, Kind“, wollte aus ihrer Kehle drängen. Zeitgleich hörte sie bedrohliches Kettenrasseln. Verstört sah sie auf und blickte in zwei grimmige Augenpaare, die aus dem gegenüberliegenden Kerker zu ihr blitzten.
Von Angst übermannt, hastete sie aus dem Verlies, ohne sich um die junge Frau zu kümmern, die das Bewusstsein verloren hatte.

„Um Himmelswillen! Ist sie das, meine Söhne?“
Lauro und Vicenzo bejahten.
„Nun denn. Gott gibt sie zu Euch. Was zögern wir?“

Wenig später…

Mit Bedacht hatten sie das Stroh am Boden aufgelockert und obenauf Vicenzos Kleidung damit ausgestopft.
Nun lagerte diese Strohpuppe im hinteren, finsteren Eck des Kerkers, um vorzutäuschen, dass er dort schliefe. In Wirklichkeit drückte er sich, fast nackt, nahe der Kerkertür flach auf den Steinboden und Lauro versteckte ihn unter dem aufgetürmten Stroh.
Don Sebastiano, den scharfgewetzten Fußnagel griffbereit, legte sich gut sichtbar direkt vor Vicenzo.
„Lasst uns beginnen!“ Auf Lauros Flüstern hin krümmte sich Don Sebastiano zusammen und wimmerte.
„Helft, so helft doch!“, schrie Lauro nach den Wachen. „Der alte Mann, er stirbt! Ihr könnt uns nicht mit einem Toten hierlassen!“ Dazu schlug er mit seinen Ketten kräftig gegen die Gitterstäbe.
Wie erhofft, lockte der ohrenbetäubende Lärm einen der Wächter an ihre Kerkertür.
„Seht doch“, gab sich Lauro flehend. „Der alte Mann, er stirbt! Schafft ihn wenigstens hinaus!“
Zuerst reagierte der Wächter nicht. In Angst, ihr Plan würde an dessen Willenlosigleit scheitern, verstärkte Don Sebastiano seine angeblichen Todesqualen. Anstatt zu wimmern, röchelte er nun dermaßen, dass Lauro Brechreiz aufsteigen fühlte. Unsicher äugte er zu Vicenzo, doch der verharrte tapfer unter dem Stroh.
Anders der Wächter. Ihn würgte, als ob er sich sogleich übergeben würde.
„An die Wand, da hinten!“, rang er sich ab. Lauro gehorchte augenblicklich.
Unter einem kontrollierenden Blick auf den scheinbar schlafenden Vicenzo sperrte der Wächter die Kerkertür auf und stieß mit dem Fuß nach Don Sebastiano. Sekundengleich schossen Vicenzos Hände aus dem Stroh. Er packte den Wärter am Fuß und riss ihn zu Boden. Lauro sprang hinzu, schlang ihm seine Ketten um den Hals, und, noch bevor der Willenlose einen Ton von sich geben konnte, hatte er sich überwunden und ihm, wie im Fluchtplan vorgesehen, mit einem kräftigen Ruck das Genick gebrochen.
Don Sebastiano holte den Fußnagel hervor und stach dem Wächter zusätzlich beide Augen aus. „Sicher ist sicher“, kommentierte er, wonach er ihn laut als seinen Sohn um Hilfe anflehte…
„Schnell“, mahnte Vicenzo mit einem vorsichtigen Blick aus ihrem Verlies. Flugs warf er sich den Umhang des Wächter über und Lauro huschte hinter ihm durch den Gang.
Die zwei weiteren, nicht auf einen Angriff gefassten Wachen, waren im Nu überwältigt. Auch ihnen wurde das Genick gebrochen.
Fieberhaft, unter den überrascht-gespannten Blicken der anderen Gefährten, wühlten Lauro und Vicenzo in den Schlüsseln der Wächter, um sich endlich der Ketten zu entledigen.
„Was habt Ihr ausgebrütet, junger Herr? Da hinten in Eurer finsteren Ecke?“ Korbinian brummte zufrieden, als Lauro ihn kurz darauf von dem schweren Halsring erlöste.
„Den jungen Herrn vergisst du ab heute, mein Freund.“ Lauro drückte ihm die Hand und eilte Vicenzo zu Hilfe, der soeben den beiden schlotternden Cousins die Ketten abnahm.
Gemeinsam schleppten sie die beiden Wächter gemäß Anweisung Don Sebastianos in den hinteren Kerker. Obwohl sie seine nachdrückliche Forderung verwunderte, schließlich hatte man die Wachen getötet, ketteten sie diese aneinander. Nachdem Vicenzo wieder angezogen war, verließ auch Don Sebastiano den Kerker und sie verschlossen die Gittertür.
„Nicht lange, meine Söhne, und in der Burg werden sie bemerken, was hier vorgegangen ist!“ Don Sebastiano mahnte zur Flucht. Er zog Korbinian mit sich. „Komm, mein Junge. Die Freiheit wartet. Nur noch der Geheimgang.“
Verblüfft folgte der Hüne dem ausgemergelten Wesen.
„Geht voraus! Wir holen sie!“ Lauro und Vicenzo spurteten zu Edelfa, und von nun an ging alles rasend schnell:
Dass der ohrenbetäubende Lärm von Lauros schlagenden Ketten an ihr offensichtlich vorbeigegangen war, da sie unverändert reglos auf dem kalten Steinboden lag, ließ die beiden Freunde nicht zögern.
„Du nimmst sie“, half Lauro dem Freund, die befreite Edelfa auf seine Arme zu bugsieren. „Ich bediene die Geheimtür und folge euch als letzter.“
Schon drängten sich die Gefährten in die von Don Sebastiano gewiesene Nische und Lauro zählte die Fackeln. An der siebten angekommen, nahm er sie an sich. Mit einem Nicken zu den anderen drehte er die Halterung nach unten.
Don Sebastiano jubilierte stimmlos, als sich die Steinwand hinter ihnen mit einem leisen Rauschen öffnete. „Nehmt von den Fackeln dort und dann lasst uns eilen!“ Auch jetzt mahnte der Greis.
Schnell waren einige der verstaubten Fackeln, die im Geheimgang bereitlagen, gegriffen und entzündet. Auf Francescos Winken hin drehte Lauro die Halterung wieder um. In Windeseile steckte er die brennende Fackel zurück… und nach wenigen Sätzen war er als letzter durch die sich bereits schließende Tür gesprungen.

Auf Burg Cortemilia, am Morgen des 09. August 1557

„Sei nicht feige“, sprach sich Emiliana am nächsten Morgen Mut zu. „Geh zu ihr ins Verlies und kümmere dich um sie. Schließlich kommt morgen dein Sohn zurück. Wie willst du dich ihm erklären?“
Sie bereute zutiefst, was sie getan hatte. Warum nur hatte sie Emanueles Bitte nicht entsprochen?! Doch nun war es zu spät. Allein auf SEINE Prophezeiung konnte sie hoffen: „Sie ist es…“

Arglos griff Emiliana kurz darauf in ihre Röcke. Sie zog den Schlüssel hervor, schloss die schwere Eisentür auf und stieg die lange, gewundene Treppe, die ins Verlies führte, hinab. Als sie unten ankam, erschrak sie fürchterlich:
Statt der sieben Männer und Edelfa fand sie nur leere Kerker vor. Abgesehen von einem. Offenen Mundes starrte sie auf die drei eingesperrten, aneinandergeketteten Wächter. Emilianas ansichtig, beteuerten diese immerfort ihre Unschuld und berichteten von schlimmen Schmerzen, die man ihnen zugefügt hätte.
Ein ums andere Mal schritt Emiliana durch das Verlies. Ihr Verstand wollte nicht fassen, dass die neuen Sklaven allesamt verschwunden waren. Schon wollte sie ihrer Wut und Verzweiflung freien Lauf lassen. – Plötzlich hielt sie inne. „Emanuele!!“, fasste sie sich erschrocken an ihre Stirn. „Du hast doch nicht etwa…?!
Doch. Ihr Sohn hatte – offensichtlich und unwissentlich jemand von den Männern in seiner Nähe eingesperrt.
Da sie selbst nicht mehr wusste, wo sie ihn einzupferchen befohlen hatte, wühlte sie, ungeachtet des Schmutzes, panisch im Stroh eines jeden Kerkers:
Keine Spur mehr von ihm. Auch er schien vom Erdboden verschluckt. Emiliana schauderte. Sie hatte ihn doch seelisch gebrochen… Oder nicht? Hatte Don Sebastiano nach all den Jahren vom Schicksal die Gelegenheit bekommen, sich an ihr zu rächen? Ließen ihn all ihre Demütigungen dennoch ein Geheimnis für sich behalten, das er jetzt gegen sie ausspielte? Nur so konnte es sein…
Sie überhäufte sich selbst mit den ärgsten Vorwürfen:
Weshalb aber auch hatte sie ihn vor sich hinmodern lassen und seit Jahren verdrängt, dass es ihn noch gab? Warum hatte sie nicht auf ihn geachtet und ihn abgeschottet? Nicht das Schicksal, sie selbst hatte ihm die Gelegenheit verschafft!
„Verfluchter Don Sebastiano! Was hast du vor mir verborgen?“ Unter ihren Worten schritt sie nochmals das Verlies auf und ab. Ihre Augen und ihre Hände suchten an jeder Wand, in jedem Winkel, in jeder Nische:
Vergeblich. Nichts, was eine Flucht ermöglicht hätte, erschloss sich ihr.
Völlig verschmutzt und erschöpft ging sie Stunden später wieder nach oben. Nur ein Tag blieb ihr noch… Ein weiteres Mal müsste sie ihren Sohn anlügen. Nicht nur, dass es Emanuele vorzuenthalten galt, Edelfa IHM eigenmächtig geweiht zu haben. Auch die späte Rache des Don Sebastiano müsste sie verschweigen, um ihr großes Geheimnis nicht preiszugeben...

Alta Langa am 10. August 1557

Auf seinem Rückweg konnte Emanuele nur noch an eines denken:
An sie. Und dass er sie nach drei langen Tagen endlich wiedersah. Auch wenn sie erst seit kurzem auf der Burg weilte, so hatte er sich nicht nur an ihre Anwesenheit gewöhnt. Nein. Er wusste es. Er wollte sie.
„Meine Taube“, flüsterte er. „Auf dich passe ich gut auf. Ich will dich nie mehr missen. Zu mir gehörst du.“
In ihrer Gegenwart wäre er, vor allem wenn sie ihm wieder ihre Abneigung zeigte, höchstwahrscheinlich zurückhaltender. Fern von ihr ließ er seinen Schwärmereien dagegen freien Lauf:
Schon sah er sie vor sich, in einem feinen rosa Seidenkleid, geschmückt und duftend, ihr Haar frisiert und ihre großen Augen auf ihn gerichtet. Schon sah er sich selbst, wie er mit ihr tändelte, sie verführte, sie vernaschte…
An den Tagen seiner Abwesenheit waren seine Fantasien mit ihm direkt durchgegangen. Er stellte sich zudem nämlich vor, wie er sie dazu brächte, dass auch sie in ihrem Temperament Gefallen daran fände, ihn zu vernaschen. Er wollte so sehr vernascht werden, von ihr… Fast schwindelig wurde ihm bei diesem Gedanken…

Später an der Auffahrt zu Burg Cortemilia am 10. August 1557

Eben, als Emanuele ein Stück des Anstiegs, der zu Burg Cortemilia führte, hinaufgeritten war, trat ein in einen zerlumpten Umhang gehüllter Mann hinter einem der hochgewachsenen Akazienbäume hervor. Den Rücken gekrümmt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, ringelten sich einige Strähnen seines dünnen weißen Haars zu seinen hängenden Schultern. Mit einer Hand stützte er sich auf einen knorrigen Stock, die andere streckte er Emanuele bittend entgegen. „Eine kleine Münze werdet Ihr vielleicht entbehren, hoher Herr?“, krächzte er mit gesenktem Haupt.
Verwundert zügelte Emanuele seinen Hengst. Noch nie hatte sich ein Bettler so nahe an Burg Cortemilia herangewagt, verständlicherweise bei den Gerüchten, die umgingen und die ihm freilich bekannt waren. Ganz offensichtlich war dieser Bittsteller fremd in der Gegend…
Die Hochstimmung, in der Emanuele schwelgte, weil er sogleich seine Taube wiedersehen würde, ließ ihn dem Bettler gönnerisch antworten. „Heute ist euer Glückstag“, umtänzelte sein Hengst den Alten, während Emanuele seinen noch gut gefüllten Geldbeutel unter seinem Wams hervorholte. Er wiegte ihn kurz in der Hand und ohne genauer nachzurechnen, wie viel Geld er weggeben würde, warf er dem Mann den Lederbeutel zu Füßen. Hernach ritt er zügig weiter, ohne sich nochmals umzusehen. Der Bettler hingegen sah ihm nach.
„Hab Dank, mein lieber Sohn. Du hat deinem Vater einen großen Dienst erwiesen. Gott schütze und leite dich zum GUTEN.“ Don Sebastiano flüsterte ergriffen. Nicht nur wegen des honorig gegebenen Geldes. Vor allem berührte ihn das stattliche Aussehen des jungen Mannes, der soeben das ihm geöffnete Burgtor passierte. Wenigstens mit dieser einen Gewissheit würde er sich jetzt auf den Weg zu seinen Anverwandten machen, nämlich mit der, dass der rechtmäßige Nachkomme auf Burg Cortemilia herrschte.

Freudig erregt galoppierte Emanuele auf den Burghof und sein erster Blick galt ihren Fenstern. Mit leiser Enttäuschung stellte er fest, dass sie ihn nicht wie erhofft erwartete. Vielleicht war sie beschäftigt! Mit einem prächtigen neuen Kleid! Oder, womöglich badete sie, für ihn??
Die Schmetterlinge in seinem Bauch ließen Emanuele mehrere Stufen der Treppen, die zu ihrem Gemach hinaufführten, auf einmal nehmen. Kaum auf der Etage, wollte er dem Wächter, der vor ihrer Tür eigentlich postiert sein sollte, zurufen, ihre Tür aufzuschließen. Doch auf dem Gang stand niemand. Verwundert und einmal mehr im Laufschritt, sprang er an die Tür. Er fasste die Klinke, drückte sie nach unten und… riss die Tür auf. In der unerwarteten, freudigen Annahme, dass seine Taube nicht mehr eingesperrt werden musste, öffnete er seinen Mund zu einem überschwänglichen Gruß… der ihm auf den Lippen erstarb:
Er stand in einem menschenleeren Raum.

„Die Taube“, riss er die nächste Tür, die zur Kräuterküche seiner Mutter, auf. „Wo ist sie?! Wieso finde ich ihr Gemach leer??“
Emiliana sah zu Boden. „Sei gegrüßt, mein Sohn.“
„Ja, ja! Wo, Mutter, wo?!“ Ihre Antwort konnte ihm nicht schnell genug kommen.
„Weg ist sie“, kam zerknirscht.
„Wie – weg?!“ Entgeistert richteten sich Emanueles leuchtend grüne Augen auf seine Mutter.
„Was soll ich sagen, Emanuele. Geflohen sind sie, aus dem Verlies, die sieben Männer von Morel. Und die Taube, wie du sie nennst, haben sie mitgenommen.“
„Geflohen… aus dem Verlies… die Taube… mitgenommen…“, wiederholte Emanuele fast flüsternd. Was hörte er da? Er musste sich festhalten.
„Die Wachen eingesperrt, sind sie entkommen. Frage mich nicht wie. Ich weiß es nicht. Denn die Tür zum Burgkeller“, bei ihren Worten fasste Emiliana wie zum Beweis zwischen ihre Röcke, „war verschlossen und den Schlüssel trage ich stets bei mir.“
Noch immer konnte Emanuele nicht fassen, was seine Mutter ihm erklärte. Wie aus der Ferne klangen ihre Worte zu ihm. Niemals zuvor hatte es auch nur einen einzigen Versuch gegeben, aus dem Verlies zu fliehen! Nicht, solange er befehligte! – Er befehligte… Er hatte nicht befehligt, drei Tage lang…
Kopfschüttelnd ließ er sich auf einen der Schemel fallen und atmete schwer. Dann sprang er plötzlich wieder auf.
„Mutter“, war es ihm durch den Kopf geschossen, „sage mir, wenn die Tür zum Burgkeller verschlossen war, wie konnten die Männer Edelfa aus ihren Gemächern holen??“ Mit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Hier stimmte etwas nicht!
„So glaube mir doch! Die Kellertür war verschlossen! Ich habe darauf geachtet!“ Emiliana wand sich wie ein Wurm unter einer Schuhsohle.
„Mutter, WIE haben die Männer Edelfa zu sich geholt?!“ Emanueles Ton verschärfte sich.
„Gar nicht!“
„Wie – gar nicht?!“
„Weil ich sie ins Verlies gesperrt hatte!“, kam es trotzig. „Und zwar zur Strafe! Kaum dass du weg warst, wurde sie aggressiv mir gegenüber. Sie hatte mich angesprungen und versucht, mir die Augen auszukratzen. Schon aus der Tür war sie, als ich am Boden lag. Zum Glück standen genügend Wachen auf dem Gang, die sie aufhielten. Glaube mir!“ Emiliana log ihrem Sohn das vor, was sie sich feinsäuberlich zurechtgelegt hatte. „Wie eine Furie hat sie sich aufgeführt!“
Emanuele schüttelte mit dem Kopf. Hin- und hergerissen, wusste er nicht, was er glauben sollte. Edelfa, eine Furie? Gut, gekratzt hatte sie ihn auch. Aber erst, nachdem er ihr gegenüber ungebührlich aufgetreten war und sie ihn damit in die Schranken wies. – Nein. Hier stimmte etwas nicht! Und zwar ganz gewaltig. Warum wurde er belogen?!
Von der Wucht der unerwarteten Neuigkeiten getroffen, fühlte sich Emanuele plötzlich zutiefst erschöpft. Ohne ein weiteres Wort verließ er die Kräuterküche und schleppte sich zurück in Edelfas Gemächer. Dort warf er sich aufs Bett, vergrub seinen Kopf in den Kissen und sog tief deren Geruch ein. Dazu zog er das Nachthemd zu sich und nahm es in die Arme. „Taube, meine Taube“, seufzte er traurig. Was hatte er sich gefreut, im Wald, als er ihr nachgerannt und sie auf seinen Armen gelandet war! Was träumte er seitdem nicht alles… Wie schmerzte es jetzt in seiner Brust, zu sehen, wie sich die Dinge wirklich entwickelt hatten! Nicht ein einziges Wort, geschweige denn ein Lächeln hatte sie für ihn erübrigt, seit sie auf Cortemilia war. Nichts als Abneigung hatte sie ihn spüren lassen. Wie gewiss er sich gegenüber diesen Adelssöhnen wähnte, und dabei waren diese es, denen sie wohl ihre Zuneigung schenkte … Und dazu war sie jetzt bei ihnen und nicht bei ihm…
Emanuele fühlte sich restlos unterlegen und einmal mehr leer und einsam. Für einen Moment durchfuhr ihn der Schmerz, der ihn als Kind immer heimsuchte, wenn man ihm erklärte, er dürfe nicht mit anderen Kindern spielen, weil er anders wäre…
Müde schloss er seine Augen und schlummerte ein.

Als er erwachte und sich zurückerinnerte, was geschehen war und weshalb er in Edelfas Bett lag, siegte, beseelt von ihrem Geruch, neue Zuversicht über seine Traurigkeit. „Schon einmal habe ich dich wiedergefunden, Taube“, sprach er zu ihrem Nachthemd und streichelte es. „Warum sollte es mir nicht ein zweites Mal gelingen?“ Er sprang aus dem Bett, ohne das Hemd aus den Händen zu lassen. „Doch zuerst will ich erfahren, was mit dir geschehen ist. Mutter verbirgt mir etwas. Ich spüre es.“ Behutsam bettete er das Wäschestück auf die Laken und ging.

Widerwillig war Emiliana ihm wenig später auf sein Drängen hin ins Verlies gefolgt. Dort ließ er sich den Kerker zeigen, in dem Edelfa eingesperrt gewesen war. So fand er eine seiner Reitpeitschen und dazu blutbeflecktes Stroh.
„Du hast sie geschlagen, Mutter! Blutig hast du sie geschlagen!“ Emanuele war bestürzt. „Sage mir die Wahrheit! Was ist hier geschehen? Du verschweigst mir etwas, ich fühle es!“
Hartnäckig blieb Emiliana ihm die Antwort schuldig.
„Du hast sie ihm in die Arme getrieben, diesem Montemano“, schob er schmerzvoll nach. „Er wollte sie für sich. Gespürt habe ich es, von Beginn an.“
Erschrocken sah seine Mutter zu ihm. Davon hatte sie nichts gewusst! Woher auch?! Außerdem hatte Edelfa von Gunst für ihren Sohn gesprochen! Wie gerne würde sie ihm dies jetzt zum Trost eröffnen… Indes, die Gunst war verloren und sie trug die Schuld daran. Emilianas Brust schnürte sich zusammen. „Emanuele, bitte, verzeih. Ich wusste nicht… Ich hätte doch nicht…“ Betroffen vom ungekannt gequälten Blick ihres Sohnes fand sie keine Worte.
„Jetzt ist sie bei ihm und er ist stark auf ewig, Mutter. Einmal nur in der Grube, ist er mir ebenbürtig. Und er wird sich meine Taube nehmen.“
Langsam drang in Emanueles Bewusstsein, was geschehen war. Nur mit Mühe beherrschte er sich, seine Mutter nicht anzuschreien. Er hatte ihn schon gesehen, diesen Montemano, willenlos und maskiert, gut versteckt vor ihr… Doch jetzt hatte er in ihm einen Feind, einen starken Feind, der, das Blatt gewendet, sie vor ihm verstecken konnte, seine Taube. „Und er hat Freunde, Mutter“, fügte Emanuele nach einem langen Seufzer hinzu. „Nun ebenso stark. Ich hingegen habe diese nicht.“
„Was redest du da?!“, erwiderte Emiliana energisch. „Du hast unzählige Wächter, die dir aufs Wort folgen!“
„Ja, hirnlose Wesen.“
„Sei nicht undankbar, Emanuele! Du hast auch noch deinen Vater!“ Ungehalten überspielte Emiliana ihre zunehmende Qual.
Auf ihren Tonfall hin verengten sich Emanueles Augen. „Wie, Mutter, soll ich sie jetzt wieder zu mir holen? Wie mir jemals ihre Gunst erwerben?“, zischte er. „Sodass sie eines Tages von mir empfängt, ganz so, wie du es wolltest? Hast du dies vergessen bei dem, was auch immer du ihr angetan hast und mir, warum auch immer, verheimlichst?“
Emiliana blieb nur zu schweigen.
„Hast du deine Gelegenheit genutzt?“, fuhr er fort, denn er hatte nicht erwartet, dass sie zu ihm sprach. „Eben, als ich nicht auf sie achten konnte? Ich sage nur – Burgturm, Mutter. Wie soll ich es werten, dein Verhalten? Duldest du doch keine andere Frau neben dir? Wenn dem so sein sollte und sie hoffentlich bald wieder bei uns ist, dann bin ich gezwungen, dir zu zeigen, wer Herr auf Burg Cortemilia ist.“ Damit ließ er sie stehen.
Man empfängt auch ohne Gunst. Sonst wärst du nicht hier.“ Still sah Emiliana ihm nach und seufzte. Sie würde zu IHM gehen. Sie musste IHN um Hilfe bitten. Nur, wie sollte sie sich IHM erklären? Und wie sollte sie dies vor ihrem Sohn geheimhalten? Über sich selbst verärgert und ratlos, warf sie einen letzten Blick zu Emanuele. Er hatte, so wie sie zuvor, begonnen, jeden Winkel des Verlieses abzusuchen. Niedergeschlagen flüchtete sie sich in ihre Kräuterküche.

Stundenlang sann Emanuele im Verlies vergeblich danach, wie den Männern die Flucht gelingen konnte und auf welchem Weg man ihm seine Taube genommen hatte. Er bereute zutiefst, Burg Cortemilia drei Tage ferngeblieben zu sein. Denn er war sicher, dass die Dinge anders lagen, als seine Mutter ihn glauben machen wollte.
Wegen des ihm unerträglichen Gedankens, dass Edelfa bei seinem Rivalen war, begann er ohne Umschweife nach ihr zu suchen. Doch er fand nicht eine einzige Spur von ihr. Und umso länger er ihr nachjagte, desto mehr hungerte es ihn nach ihr.

Musik: The Watchers – Howard Harper-Barnes
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