Episode 21 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Beginn Kapitel 4

Auf Burg Cortemilia, zwei Tage zuvor, am 08. August 1557

Die Gefährten schätzten, dass es mindestens eine Meile sein musste, die sie unbehelligt durch den Geheimgang geeilt waren.
Nachdem sie aus dem kleinen Verschlag, der wie ein Zugang zu einem der üblichen Lagerkeller in den Hügeln anmutete, geschlüpft waren, fanden sie sich inmitten von Weinreben wieder. Burg Cortemilia thronte wuchtig und düster in einiger Entfernung oberhalb dieser Weinberge, welche bis an die Burgmauer heranreichten.
Dem Stand der Sonne nach musste es am späten Vormittag sein. Am liebsten hätten die Männer den unheilvollen Ort sofort verlassen, doch es galt, den Schutz der Nacht abzuwarten. Deshalb krochen sie in den Gang zurück, wo sie sich fürs Erste sicher fühlten.
Jene Wartezeit bot Gelegenheit, sich überglücklich immer wieder in die Arme zu fallen. Don Sebastiano eingeschlossen, Lauro ausgeschlossen. Der hatte sich auf den felsigen Boden gesetzt und sich von Vicenzo die unverändert bewusstlose Edelfa auf seine Beine betten lassen.
Francesco und Niccolò, die nicht ahnten, welcher Gefahr man soeben entronnen war, grinsten witzelnd bis über beide Ohren. Die ewig verängstigen Augen der beiden Cousins leuchteten vor Freude wie blankpolierte Silbermünzen und Korbinian ertrug klaglos das Wangentätscheln der nicht zur Ruhe kommen wollenden knochigen Hände des Greises.
Schien Don Sebastiano im Laufe ihres Ausbruchs aus dem Kerker zunehmend erschöpft, so zeigte er jetzt das genaue Gegenteil. „Mein Söhne, oh meine Söhne“, rief er halblaut, dennoch begeistert aus. „Was für ein Freudentag! Dachte ich, in meinem eigenen Verlies zu vermodern! Falsch gedacht!“
Seine Hände ließen von Korbinian ab und er wuselte zu einem Bündel an Fackeln, das am Boden herumlag. Er zog eine hervor, pustete aus zahnlosem Kiefer Schmutz und Spinnweben ab, um sie dann an einer der brennenden Fackeln zu entzünden, die man aus dem Verlies mitgenommen und in die Wandhalterungen gesteckt hatte. Mit einem fröhlichen „Auf nach draussen!“, schickte er sich an, erneut in Richtung des Ausgangs zu laufen.
„Wo wollt Ihr hin, Don Sebastiano? Was, wenn man Euch erkennt?!“, raunte man ihm stehenden Fußes nach. „Bleibt bei uns! Wir gehen gemeinsam sobald die Nacht hereinbricht!“
„Wer soll mich denn hier erkennen, meine Söhne?“, gab er bestimmt zurück. „Keiner achtet auf einen zerlumpten Greis!“ Trotz seiner Entschlossenheit hielt er inne und wandte sich den Gefährten zu.
„Aber die Wächter…“
„… die haben mich schon nicht mehr erkannt, als ich sie im Verlies darum anflehte. Also sorgt euch nicht und lasst mich ein bisschen Sonne und frische Luft geniessen! Nachher kehre ich zurück.“ Damit huschte er von den Gefährten weg und auch der Lichtschein seiner brennenden Fackel war schnell verschwunden.

„Jetzt sag mir einer, wer das ist!“ Korbinans Blicke wanderten auffordernd zwischen Lauro und Vicenzo, die zu erzählen begannen.
„An die Wand hatte er uns gekettet, der schwarze Teufel, stehend, in der ersten Nacht in seinem Verlies. Stockfinster war es da. Kein Lichtstrahl drang dorthin. Plötzlich raschelte es im Stroh und wir fürchteten, es wären Ratten. Dem war zum Glück nicht so. ‚Ich bin immer noch ein Mensch, auch wenn ich längst eine Ratte sein könnte‘, krächzte es aus der hintersten Ecke…“
Die beiden Freunde schilderten, was sie mit Don Sebastiano im Kerker erlebt hatten, doch allzuweit kamen sie nicht. In dem Moment, in dem sie zu seiner Geschichte nebst den überraschenden Wahrheiten ausholen wollten, flackerte Licht im Geheimgang auf. Zudem hörte man das eilige Herannahen schlurfender Schritte. Weil all dies jedoch aus Richtung des Ausgangs herkam, erschrak niemand. Korbinian stand trotzdem auf und ging dem Schlurfen und Flackern entgegen.
„Leute, es gibt Frühstück“, verkündete er kurz darauf mit einem zufriedenen Grinsen, unterdessen Don Sebastiano aus Korbinians zum Tragetuch aufgerafften Hemd emsig eine erkleckliche Menge Weintrauben unter den Männern verteilte, die der Hüne ihm zuvor abgenommen hatte.
„Vollreif, süß und saftig. Wie eh und je“, kommentierte der Greis und schob sich eine erste Traube zwischen seine runzeligen Lippen. „Bloß hatte ich noch Zähne, als ich das letzte Mal von meinen Trauben aß“, äußerte er mümmelnd.
„Ein Wunder, dass die Franzosen hier nicht gelündert haben“, herrschte allgemeine Verwunderung, die sich jedoch in genüsslichem Schmatzen verlor.
Vicenzo, der Lauro mit von den Stielen abgezupften Beeren versorgte, versuchte sich ebenso an Edelfa. Da sie noch immer kein Lebenzeichen von sich gab, zerdrückte er eine Traube zwischen seinen Fingern und träufelte den Saft auf ihren Mund. Umsonst. Sie reagierte in keiner Weise auf die dargebotene Erfrischung.
Don Sebastiano näherte sich den Freunden und der jungen Frau. Vorsichtig fasste er nach ihrem, an Lauros Brust geneigtem Gesicht, um es eingehend zu betrachten. „Wie schön sie ist“, urteilte er bedrückt. Seine Blicke tauchten in Lauros blaugraue Augen, wenngleich sie nicht ihn, sondern in Gedanken seinen Sohn ansahen. Wie sehr er wünschte, jene junge Frau hätte zu seinem Fleisch und Blut gefunden, um es vom BÖSEN weg und zum GUTEN hin zu leiten! Doch dies war vereitelt. Bald schon wären seine Schützlinge auf dem Weg zu ihren Familien und zweifelsohne freite einer von ihnen um sie…
„Nun ruht, meine Söhne“, presste er hervor, um seiner aufsteigenden Seelenqual zu entgegnen. Er löste sich von Lauros Augen und rappelte sich auf. „Die kommenden Nächte werden schlaflose für euch sein. Gefahrvoll wird der Weg nach Hause.“
„Don Sebastiano, ihr sprecht, als würdet ihr nicht mit uns kommen!“ Auch Vicenzo ließ von Edelfa ab. Er stand auf und sah fragend zum Greis, der sich mittlerweile den lichtspendenden Wandfackeln zugewandt hatte, um ihre verbleibende Brenndauer zu prüfen. „Aber nein.“ Er drückte Vicenzos Arm, der nun neben ihm stand. „Sorgt euch nicht um mich, meine lieben Söhne“, beschwichtigte er. „Die Linie der Cortemilias ist alt und weitverzweigt. Obschon Jahrzehnte vergangen sind, gibt es mit Sicherheit noch genügend Anverwandte, denen ich mich zu erkennen geben und bei denen ich meinen Lebensabend verbringen kann. Ich benötige nur etwas Startgeld, um zu ihnen zu gelangen. Aber… das wird zu erbetteln sein.“ Er zwinkerte den Gefährten zu. „Also ruht jetzt. Ich achte auf die Fackeln und wecke Euch, sobald die Nacht anbricht.“

Eine ganze Weile schon war die Sonne hinter den Hügeln, die Cortemilia umschlossen, untergegangen. Doch noch immer verlor sich Don Sebastiano an das herrliche Abendrot, das er so lange nicht erleben durfte. Aber nun war es höchste Zeit, seine Schützlinge zu wecken und sich von ihnen zu verabschieden. Mit gemischten Gefühlen, denn dies zog zwangsläufig nach sich, dass er sogleich auf sich allein gestellt wäre, bewegte er sich zurück in den düsteren Geheimgang.

Innigst verabschiedete sich Vicenzo als erster. Tränen rannen dem Greis über die Wangen, als sich auch Francesco, Niccolò, Korbinian, Maurizio und Fabrizio nacheinander vor ihm verneigten und ihm seine zitternden Hände küssten.
Vicenzo nahm derweil Lauro die unverändert bewusstlose Edelfa von den Beinen und lud sie sich auf die Arme. Lauro rappelte sich auf, schüttelte seine blutleeren Beine, die ihm das Halten der jungen Frau beschert hatte, und verabschiedete sich als letzter. „Bitte. Don Sebastiano“, flehte er dabei. „Sendet Nachricht nach Burg Montemano, damit wir wissen, dass es Euch gut geht. Oder schreibt, wenn ihr Hilfe braucht. Wollt Ihr wirklich nicht mit uns kommen? Wir könnten dann gemeinsam…“
„IHR geht jetzt gemeinsam“, fiel Don Sebastiano ihm eilig ins Wort. Ihn ängstigte, wenn er noch länger gebeten würde, dass er sich wirklich den sieben jungen Männern anschloss. „Vertut nicht Eure Zeit mit einem alten Mann. Aber danke für Euer Angebot. Seid gewiss, dass ich es nutze, so ich es brauche.“
Er versetzte Lauro einen leichten Schubs, um dass der seinen Freunden, die sich längst in Richtung des Ausgangs fortbewegt hatten, endlich nachliefe.
Lauro gehorchte. Nur einmal noch drehte er sich nach ihrem Retter um. „Habt Dank für unser aller Leben“, raunte er zu ihm, bevor er den Gefährten endgültig nacheilte.
Don Sebastiano folgte ihm in einigem Abstand bis zum Ausgang. Dort lauschte er den Geräuschen, die die durch die Reihen der Weinreben abwärts huschenden Männer hinterließen. Als er nichts mehr davon hören konnte, pflückte er für sich noch einige Trauben. Damit setzte er sich an den hölzernen Verschlag, der den Geheimgang abschottete. In leiser Wehmut verzehrte er das Obst, um sich dann träumerisch an die Weite des endlos scheinenden Sternenhimmels zu verlieren.

Leise setzten die Männer an, talwärts in Richtung der nachtstillen Stadt zu schleichen. Kurz darauf lagen die Weinberge hinter ihnen und sie erreichten jenen Ort. Ohne Umschweife suchten sie dort einen Zuweg ins Flussbett der Bormida:
Nichts schien ihnen günstiger, als darin der Tocke die Fährte zu nehmen. Außerdem begünstigte die Jahreszeit ihre Flucht durchs Wasser. Weder ausgiebige Herbstregen, noch das im Frühjahr in die Flüsse drängende Schmelzwasser des nahen Hochgebirges hatten den Flusslauf der Bormida anschwellen lassen. So wateten die Gefährten gefahrlos inmitten des gemächlich dahingleitenden Gewässers.
Vicenzo, an Lauros Seite, schöpfte wieder und wieder Wasser in seine Hände, womit er Lippen und Wangen der jungen Frau nässte, die er soeben den Armen des Freundes übergeben hatte. Inständig hofften beide, dass sie endlich ihre Augen aufschlüge. Doch außer ihrem ruhigen, gleichmäßigen Atem gab sie kein Lebenszeichen von sich.
„Hoffentlich schläft sie bloß, Lauro. Sieh sie dir an. Was hat man nur mit ihr gemacht?“
Vicenzo musterte die junge Frau, wobei er trotzdem auf den steinigen und glitschigen Weg durch das Flussbett achtete. Er stützte nämlich den Freund, wann immer dieser unter seiner Last strauchelte oder auszurutschen drohte.
„Nicht einmal Schuhe trägt sie“, fuhr er fort, nachdem er Lauro über eine rutschige Stelle hinweggeholfen hatte. „Und das Kleid scheint mir das einer Dienstmagd. Musste sie am Ende als Dienerin arbeiten, für diesen Teufel? Und ich dachte noch, er schmückt und umgarnt sie als seine Gespielin.“ Er schüttelte den Kopf.
Vicenzos Worte formten sich in Lauros Vorstellung zu Bildern. Aufstöhnend äugte er in das an seiner Brust ruhende Gesicht.
„Nun“, sinnierte Vicenzo weiter, während er Lauro balancierend über die nächsten Kiesel hinweghalf. „Anscheinend hat sie ihm die Suppe versalzen. Und zwar kräftig, so vehement, wie sie ihn beschimpft hat. Was hat sie noch geschrien? Irgendwas vom Teufel. Nein, Teufelssohn mit hässlichem gehörnten Ziegenkopf in seiner Qualmwolke…“ Vicenzo schmunzelte. „Heißblütig ist sie, unsere Neapolitanerin. Jetzt verstehe ich auch, warum diese schwarze Gräfin sie mit der Peitsche geschlagen und nach Gehorsam gegiftet hat. So eine Beleidigung des eigenen, dazu noch so ungewöhnlich schönen Sohnes will verkraftet sein. Denn eines ist nicht von der Hand zu weisen. Dieser schwarze Teufel ist ein ausnehmend schöner Mann. Hast du nicht seine Augen gesehen, Lauro? Die Frauen fallen ihm sicher reihenweise vor die Füße. Nur eine nicht.“ Vicenzo kam nicht umhin, Edelfas Stirn zu streicheln.
Er lächelte zu Lauro, der bei seiner Erinnerung an die auch ihm nicht entgangene Schönheit des Rivalen missmutig das Gesicht verzog.
„Aber jetzt, Mädchen, bist du wieder bei uns. Der Teufel muss sich ein anderes Spielzeug kaufen.“ Noch immer strich Vicenzos Hand sanft über Edelfas Haare. „Stolz bist du und sicher stark dazu. Wenn du uns nur bald aufwachst. Dann wirst du schon berichten, was dir geschehen ist.“
„Hauptsache“, reagierte Lauro, „er kann ihr nichts mehr tun.“ Bestimmt drückte er sie an sich.
Der zu den anderen Gefährten mittlerweile beängstigend angewachsene Abstand ließ die Freunde schweigen und zügigst ausschreiten.

Alta Langa, in der Nacht vom 08. auf den 09. August 1557

Nicht lange blieb ihnen der eher wenig anstrengende Fußmarsch durch das seichte Flussbett der Bormida vergönnt. Nachdem sie geschätzt zwei Stunden gelaufen waren, gab Lauro, als einziger ortskundig, vor, dass sie den Fluss verlassen und sich rechter Hand halten müssten. Er begründete, dass sie nur so auf dem gleichen Weg, auf dem man sie nach Cortemilia gebracht hatte, zurückgehen könnten.
Weil die Meinungen darüber auseinandergingen, rasteten die Gefährten für einen Moment, um zu beratschlagen.
„Das Schlimmste, was einem zu Fuß und ohne Proviant in der Alta Langa passieren kann, ist es, sich zu verlaufen.“ Lauro blickte in die Runde der gespannten Mienen um ihn.
„Und das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass uns die Cortemilia‘s wieder einfangen“, warf Francesco ein.
„Oder die Franzosen“, ergänzte Niccolò mit verkniffenem Gesicht.
„Genau. Haben wir also die Wahl zwischen dem Hungertod, dem schwarzen Teufel und den Froschfressern. Dann geht der ganze Schlamassel von vorne los“, brummte Korbinian finster.
„Trotzdem, Freunde.“ Lauro war fest entschlossen, sich diesmal durchzusetzen, was ihm bei seinen Fluchtgedanken vor nur wenigen Tagen nicht gelungen war. „Es ist der einzige Weg, den ich kenne. Wir müssen jenseits der Alta Langa. Und sich aufs Geradewohl in die Hügel zu wagen, ohne einen Weg vorzufinden, ist weit gefährlicher. Glaubt mir. Erst einmal im Kreis gelaufen…“
„Gut, Lauro“, fiel Vicenzo ihm ins Wort. „Ich denke, wir haben dich verstanden. Was also wäre dein Vorschlag?“
„Wir nehmen den gleichen Weg nach Monforte d‘Alba zurück, meiden jedoch die Pfade der Fuhrwerke. Nahe dieser schlagen wir uns durch den Wald. So verlaufen wir uns nicht. Und wir gehen, wie auch Don Sebastiano meinte, ausnahmslos nachts. Tagsüber verstecken wir uns und ruhen.“
„Und das schwarze Hundevieh? Das wittert uns doch auch im Unterholz!“ Wieder unkte Korbinian.
Lauro überlegte. „Das stimmt, aber nur wenige Tage sind vergangen, seit wir hier schon einmal hindurchgetrieben wurden, manches Stück sogar zu Fuß. Demnach kann sich dieser di Cortemilia nicht sicher sein, ob er nur einer alten Fährte folgt.“
Dies klang mehr als einleuchtend, auch für Korbinian. So war es beschlossen. Lauro seufzte erleichtert.
Nun hieß es, zu beten, dass sie zuerst unbeschadet durch die Alta Langa bis Monforte d‘Alba kämen. Von dort aus könnte sie ein weiteres gemeinsames Wegstück bis an den Tànaro führen, wo sich dann, um dass jeder zu seiner Familie gelangte, ihre Wege wieder trennten…
Man verließ also rechter Hand das Flussbett, schlich an einer kleinen Ansiedlung vorbei und nahm den ersten steilen Hügel in Angriff. Auch wenn dieser in der stockdunklen Nacht fast bedrohlich vor ihnen aufragte, drängten sie dennoch kraftvoll und entschlossen vorwärts. Sie bewegten sich wieder in Freiheit und auf dem Weg nach Hause!
Schnaufend und schwitzend verharrten sie später auf der Kuppe des Hügels. Glücklich schweiften ihre Blicke westwärts in die vor ihnen liegende weite Landschaft und sie schwelgten in Vorfreude auf die Heimat.
Nachdem sie den Pfad, an den sie sich halten mussten, sicher ausgemacht hatten, stiegen sie in das Finstere des folgenden Tals hinab, um dann wiederum aufzusteigen…

„Was ist das für eine gottverfluchte Gegend!“ Korbinian wetterte als erster, als sie den fünften steilen Hügel passierten.
Jeder von ihnen rang nach Atem, und, obwohl es Nacht war, zeigte sich der August von seiner ungemütlichen Seite. Es herrschte erdrückende, dampfige Wärme, die erst kurz vor Sonnenaufgang erträglicher werden würde. Allein die Mücken schwelgten – im Blutrausch.
Der Plage nicht genug, meldete sich heftiger Hunger bei den Männern. Don Sebastianos Weintrauben waren mit der hinter ihnen liegenden Anstrengung längst verdaut und der Umstand, dass sie nicht wussten, wann und wie sie an etwas Essbares gelängen, steigerte ihr Dilemma.
Einzig ihren Durst konnten sie löschen. In jedem Talgrund fanden sich Quellen oder Bächlein, die erfrischendes Nass spendeten.
Vicenzo und Lauro, die die nach wie vor bewusstlose Edelfa abwechselnd trugen, waren schweißgebadet und zeigten erschöpfte Gesichter.
„Korbinian“, japste Vicenzo. „Komm, du bist der Stärkste von uns allen. Nimm sie einen Moment.“
Erstaunt blickte ihn der Hüne an. „Was hab ich mit dem Weibsbild zu schaffen? Ihr wolltet sie unbedingt mitnehmen. Ich hätte sie gelassen, wo sie war, diesen Ballast. Herumkommandieren wird sie uns, das Edelfräulein, ich sage es euch.“
„Gib sie mir wieder, mein Freund. Betteln wir ihn nicht an, diesen mitleidlosen Sturkopf.“ Lauro trat hinzu, kaum dass er sich von der Schlepperei etwas erholt hatte. Fast bereute er, Korbinian die Knechtschaft erlassen und ihm Freundschaft angetragen zu haben. Wäre er noch sein Knecht, könnte er ihm befehlen, was er augenblicklich tun würde. Mit Nachdruck…
Vicenzos vorwurfsvoller Blick traf Korbinian, als er sich anschickte, Edelfa in Lauros Arme zu bugsieren.
„Den mitleidlosen Sturkopf nehmt ihr zurück!“, drängte sich der Blondschopf gereizt zwischen die Freunde. Er packte Edelfa und lud sie sich wie einen Sack über die Schulter, dass sie aufstöhnte.
„Wenn du sie schon nimmst, dann tue es behutsam, Korbinian!“ Vicenzo schimpfte trotz seiner Erleichterung, dass Edelfa anscheinend endlich zu sich kam. „Streck deine Arme aus.“
Er zog sie von den Schultern des Hünen und bettete sie an dessen muskulöse Brust. Edelfa öffnete kurz die Augen und legte mit einem entrückten Lächeln ihren Kopf an Korbinians Herz. Hernach versank sie abermals in sich.
Scheinbar berührt von ihrer Vertrautheit brummte Korbinian etwas Unverständliches, wiegte sie in ein für ihn bequemes Gleichgewicht und nahm den nächsten Hügel in Angriff.
Beseelt, dass Edelfa ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, seufzten die Freunde einander zu und stapften Korbinian hinterher.

 

Musik Episode 21:  ES_From Stardust – Christoffer Moe Ditlevsen

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