Episode 9 Des Teufels Finger I - Lügengespinst

Fortsetzung Kapitel 3

Piemont, an den Ufern des Flusses Tànaro nahe Barolo, Juli 1557

Die folgende Nacht, unweit des Abzweigs nach Barolo, lagerte man am Ufer des Tànaro. Dieser verhieß die erste Waschgelegenheit seit ihrem Aufbruch in die Schlacht. Dazu würde man sich endlich satt trinken können.
Da man die Gefangenen auch jetzt nicht aus ihren Ketten entließ, waren sie mühsam in das steinige Flussbett gestiegen. Dessen ungeachtet, ihrer Stiefel entledigt, bescherte allein das kühle Nass, das die geschundenen, geschwollenen Füße umspülte, eine einzige Wonne. Die Eisen an ihren Leibern hinderten sie zwar am Auskleiden, aber wenigstens konnten sie sich den reichlichen Schmutz und vor allem das eingetrocknete, eigene oder fremde Blut aus ihrer Kleidung spülen.
Mit dem Waschen von Gesicht und Haar, kehrte er langsam zurück – ihr Geruchssinn.
So sehr sie auch an sich schrubbten, ohne ein Stück Seife blieb es trotzdem ein hoffnungsloses Unterfangen, den Gestank, den sie in der Nacht im Ziegenstall gezwungenermaßen zu ihrem eigenen Körpergeruch gemacht hatten, wirklich zu bannen.
„Wie die Ziegenböcke, mein Gott! Wir stinken wie alte Ziegenböcke!“ Entsetzt roch Francesco an sich, wieder und wieder.
Im Flussbett für den Moment vor Peitschenhieben sicher, neckte Niccolò seinen fassungslosen Freund: Er schnüffelte intensiv in dessen Richtung, verdrehte genießerisch die Augen und säuselte mit französischem Akzent. „Francesco, oh mon Dieu. Verrate ihn mir unbedingt, ich flehe dich an! Behalte ihn nicht für dich, deinen Parfumeur!“
Augenblicklich konnten beide kichern…
„Gott erhalte euch euren Humor.“ Vicenzo lächelte kopfschüttelnd.
In der leisen Hoffnung, die zwei Patrizier hätten Lauro ebenso ein Schmunzeln entlockt, spähte er zu ihm. –
Vergeblich. Mit gen Himmel gerichteten, geschlossenen Augen lag Lauro reglos im Flussbett.
„Jetzt einfach nur treiben lassen.“ Ernst und sehnsüchtig wanderten Francescos Blicke zu Vicenzo. „Treiben in unserem Tànaro. Spülte er uns bis nach Hause, bis nach Asti.“
„Du sagst es, Francesco“, schickte Vicenzo zurück. „Du lässt dich nach Hause treiben und ich lasse mich vom Wasser der Stura di Demonte[1] trösten. Vor kaum einem Tag speiste es in seinem Lauf meine Heimatstadt, bevor es in euren Tànaro mündete. Es füllte die Wasserkrüge auf unseren Tafeln und die Waschzuber in unseren Badestuben. Es labte das Gemüse in unseren Gärten und beseelte die Taufbecken in unseren Kirchen…“
„Nicht, haltet ein! Dies dürft ihr nicht!“ Niccolò mahnte sanft. „Genießt den Moment und zieht die Kraft aus unserem Fluss, mit der er fließen kann, so wie auch wir unser Leben weiter fließen lassen. Jetzt in den Fingern der Franzosen. Aber nur jetzt!“
Schweigend nickten sich die Männer einander zu, um sich dann einmal mehr im Flussbett zu strecken.
Mit einem erneuten Blick auf seinen Freund, der die ganze Zeit die Augen geschlossen hielt, begann Vicenzo leise zu beten. Er tat es vor allem für Lauro, den gerade jetzt nicht das Wasser des heimatlichen Flusses trösten konnte. Denn die Varaita, nicht die Stura di Demonte oder der Tànaro war die Lebensader seines heimischen Tales.

Das getrunkene Flusswasser als ihren nächtlichen Proviant angesehen, befahl man die Gefangenen später wieder aus dem Fluss Man überließ sie, durchnässt wie sie waren, einem Nachtlager auf der nackten Erde. Dessen ungeachtet war den Männern der Sternenhimmel eine willkommenere Zudecke, als der beißende Gestank des Ziegenstalls in der vorangegangenen Nacht.
Die sieben Männer, die die schrecklichen Erlebnisse der vergangenen Tage vereint hatten, legten sich zum Schutz vor der heraufziehenden Nachtkühle dicht zueinander. Dabei hielten sie nicht nur die Ketten beisammen. Auch war es nicht nur das geteilte Leid, das sie schier zusammenschweißte: Bande einer Männerfreundschaft waren es. Zart noch, aber unverkennbar.

 

Am nächsten Morgen verließ man den Flusslauf des Tànaro. Zuerst folgte man dem Abzweig nach Barolo, dann ging es abermals gen Osten.
Nach mittlerweile drei Tagen quälenden Fußmarsches, die Hand- und Fußgelenke von den schweren Eisenketten wundgescheuert, erhob sie sich vor ihren Blicken: Die Alta Langa.
Lauro kannte jenen Landstrich, in dem unzählige Hügel den Blick bis an den Horizont führten. Er hatte seinen Vater oft dorthin begleitet, wenn dieser den Verkauf der Obst- und Kastanienernte in jenem Teil des Piemont organisierte. Wie aus göttlicher Hand überschwänglich ausgestreut, lagen diese Hügel so dicht aneinander, dass man meinte, die auf kurzer Distanz immer wieder zu überwindenden Höhenunterschiede von knapp eintausend Metern wären für Mensch und Tier unbezwingbar. Dies waren sie nicht. Indes – nur mit großer Anstrengung bewältigte man eine Durchquerung dieser rauen und dabei selten faszinierenden Landschaft. Kaum, dass man eine der lichtdurchfluteten, zumeist eine herrliche Fernsicht bietenden Hügelkuppen erklommen hatte, folgte der Abstieg in ein tief eingeschnittenes, düsteres Tal. Aus der Ebene von Westen her sanft und gnädig durch die Weinbaugebiete ansteigend, die Durchreise noch erträglich über Kammlagen und Hochtäler, fiel die Alta Langa gen Osten und Süden umso unbarmherziger und steiler ab. Dürftigst besiedelt war sie seit Menschengedenken, weil ihre Urbarmachung die Herausforderung der bloßen Durchquerung um ein Mehrfaches überstieg. Die heftigen Winde, die sich tagtäglich in ihr zusammenbrauten, taten ein Übriges, um sie sich selbst zu überlassen. Demgefolgt gedieh fast ungestört eine üppige Pflanzen- und Tierwelt – ein Paradies für die menschliche Hand, die sich, ungeachtet ihrer vordergründigen Plagen, nach ihr ausstreckte…

Bei wiederum drückend feuchter Hitze trieb man die Gefangenen durch die Weinberge aufwärts in Richtung Monforte d‘Alba. Der Schweiß lief ihnen in Rinnsalen vom Körper. Sie waren durchnässt, bevor die Sonne ihren Zenit überhaupt erreicht hatte, und die Erfrischung des Bades im Fluss tags zuvor schien nur noch eine ferne Erinnerung.
In ihrer immensen Ausdehnung boten die Rebberge um Monforte d‘Alba einen beeindruckenden Anblick. Auch zeugten sie von fleißigster Arbeit. Doch in Anbetracht ihrer Qualen, die die Männer litten, und in der Ungewissheit ihres Schicksals, lag es ihnen fern, die sie umgebende Pracht zu verinnerlichen.
Die Vollreife noch vor sich, stieß man tatsächlich auf ungeplünderte Rebstöcke. Hilflos mussten die Gefangenen deshalb mit ansehen, wie die Söldner in die Weinberge einfielen, mit ihren Fäusten rücksichtslos und ungehemmt die Trauben von den Reben rissen und sich in die Mäuler stopften. Unter höhnischem Gelächter warf man die abgekauten Stiele, an denen allenfalls noch kleine ungenießbare Beeren hingen, zu den Gefangenen. Schlussendlich wurden die Weinstöcke rein aus Zerstörungswut niedergetrampelt.
Korbinian, restlos aggressiv vom unerträglichen Hunger, knirschte mit den Zähnen, dass man meinte, diese müssten jeden Moment in Stücke zerbröseln und aus seinem Mund rieseln. „Diese verfluchten Schweine!“, zischte er. „Schlangen sollen sie fressen und Galläpfel, in der Hölle, wenn der Leibhaftige sie für ihre Schandtaten geholt hat.“

Monforte d‘Alba, die wunderschöne Ansiedlung auf der Kuppe eines imposanten, die Gegend überragenden Hügels mit seinen wenigen, aber wohlhabenden Weingütern, war ein gefundenes Fressen für die französischen Belagerer:
Die weite Sicht in alle Himmelsrichtungen vereitelte jedem Feind einen Überraschungsangriff. Dreist wurden deshalb die Besitzungen und Anwesen vereinnahmt und geplündert. Außerdem boten diverse befestigte Gemäuer den Befehlshabern einen Unterschlupf für ihre Geschäfte im Sklavenhandel…

Monforte d’Alba, zu Beginn des August 1557

„Los, ihr stinkenden Dreckschweine! Auf gehts zu eurem neuen Herrn!“
Nachdem den Gefangenen die ausgewucherten Bärte mit grober Hand abgeschabt worden waren, trieb man sie auf einen Hof.
Dort wartete bereits Morel, jener französische Sergeant, der sie gefangengenommen hatte.
Neben ihm stand ein auf das Edelste ganz in Schwarz gekleideter junger, hochgewachsener Mann mit ungewöhnlich leuchtend grünen Augen. Er trug ein glattledernes Wams, an dessen Schultern ein kurzer Mantel befestigt war. Aus Kragen und Ärmeln drängte sich ein reich gefälteltes schneeweißes Hemd. Die enganliegenden seidig glänzenden Beinkleider endeten in kniehohen gespornten Schnallenstiefeln. Das pechschwarze, zu einem Zopf gebundene, lange Haar bedeckte ein schräg auf seinem Kopf sitzendes, mit einer ausladenden schwarzen Feder geschmücktes, samtenes Barett. An den Hüften blitzte ein silbernes Schwertgehenk und in seinen schlanken Händen hielt er lässig eine Reitpeitsche und schwarze Lederhandschuhe.
Eine ältere, leicht gebückte Frau saß auf einem wohl eigens für sie herangeschafften Sitzmöbel. Unverkennbar die Mutter des jungen Edelmannes, war auch sie in edles Schwarz gehüllt. Ein schillernder, schwarzer Spitzenschleier verdeckte ihr aufgeflochtenes Haar und die obere Gesichtshälfte.
Zu ihren Füßen lag eine ausgewachsene, lackschwarze Tocke[2] und döste. Als die Gefangenen vorgeführt wurden, erhob sich der riesige Hund mit seinen triefenden Lefzen. Hechelnd begann er zu wittern.
Auf- und abgehend setzte der junge Edelmann an, die noch immer aneinandergeketteten Gefangenen wie Vieh auf dem Markt zu mustern. „Woher kommt dieser hier“, fragte er und seine Peitsche klopfte gegen Korbinians Brust. „Ist er aus dem Norden?“
Gleich einem Wolf, der sich sprungbereit macht, blinzelte Korbinian grimmig zu ihm.
„Ein Teutscher ist er, Conte di Cortemilia. Stark wie ein Pferd, kann er Tag und Nacht arbeiten.“
Ungerührt von Korbinians Drohgebärde schritt der Conte weiter.
„Und diese hier“, nun tippte die Peitsche auf Lauro und Vicenzo, „scheinen mir Edelleute zu sein.“ Er maß beide Männer mit Blicken ab, glichen sie ihm in Stand und Alter…
„Wie recht Ihr habt. Ja, dies sind zwei piemontesische Adelssöhne. Sie mussten sich auf dem Schlachtfeld ergeben.“
„Wisst Ihr ihre Namen und habt Ihr noch ihre Waffen?“
Emanuele di Cortemilia forschte in den Gesichtern der beiden Freunde, die zwar ohne jede Regung, doch nicht ohne Stolz an ihm vorbeisahen.
„Lauro di Montemano und Vicenzo di Fossano. Aber nein, ihre Waffen haben wir nicht mehr.“
Morels zweiter Satz war gelogen. Viel zu wertvoll waren die edlen Schwerter der Adelssöhne, als dass man sie mitsamt den Sklaven verkaufte…
Die Augen kurz zusammengekniffen, schritt der schwarzgekleidete Graf weiter. Ohne den Sergeant mit einem Blick zu bedenken, ging er langsam von einem zum anderen der Gefangenen.
Als er Niccolòs offenen, ungeniert-direkten Blick auf sich und dazu sein wiederholtes, vornehmes Hüsteln gewahr wurde, blieb er vor ihm stehen. In seinem unübersehbaren Geschmack für ausgesucht elegante Kleidung nahm er dessen verschlissenes, trotzdem in seiner auffälligen, mondänen Machart noch erkennbares Oberkleid aus feinem Tuch in Augenschein.
„Du“, ruhte seine Reitpeitsche an Niccolòs Brust, „scheinst mir guter Dinge in deiner Lage.“
Morel war misstrauisch hinzugetreten und versetzte Niccolò einen Schlag hinter den Kopf. „Verneig dich gefälligst, du Hund!“
Nachdem Niccolò seinen Kopf leicht seitlich zu Francesco gedreht und einen intensiven Blick mit ihm getauscht hatte, verneigte er sich. Jedoch nicht in der Art eines Dieners. Vielmehr locker-galant…
Niccolòs vollendete Verbeugung und sein Blickkontakt zum Nebenmann weckten Emanueles Interesse an Francesco. „Stolze Patrizier, du und dein Freund. Asti oder Alba?“
Auch Francesco verneigte sich. „Asti, der Herr“, entsprach der Tonfall seiner ebenso geschmeidigen Verbeugung.
Emanuele quittierte mit leicht schrägem Kopfnicken und hochgezogenen Augenbrauen. Dann schritt er nochmals an den begutachteten Männern entlang.
„Also gut, Sergeant Morel“, hörte man ihn mit einem Blick zu der älteren Dame. „Davon abgesehen, dass sie wie Ziegenböcke stinken, recht brauchbare Männer. Ich wähle diesen und diese beiden.“ Seine Peitsche tippte auf Korbinian, Lauro und Vicenzo. „Auch die Patriziersöhne aus Asti folgen uns.“
Wie auf Kommando fassten Francesco und Niccolò die zwei nebenstehenden schlotternden Cousins Maurizio und Fabrizio bei den Schultern. „Bitte“, verneigten sie sich und zogen die verängstigten Jünglinge mit sich. „Nehmt uns alle sieben. Es wird Euer Schade nicht sein.“
Erstaunt sah Emanuele zu ihnen und näherte sich abermals. Nach kurzem Blickkontakt verneigten sich auch Lauro und Vicenzo und, von unten einen auffordernden Blick zu Korbinian geschickt, folgte sogar dieser. Wenn auch brummend.
Morel war mit seinen Gefangenen überaus zufrieden: Sie verkauften sich für ihn und er rieb innerlich die Hände, rannen bereits die kühlen Dukaten für sieben Männer durch seine Finger…
Indes. Der junge Edelmann zögerte. Die beiden schlotternden Halbwüchsigen schienen nicht nach seinem Geschmack.
Demnach musste Morel nachlegen, wollte er sie loswerden, und dies war sein Ziel…
„Edler Herr“, dienerte er beflissen. „Jetzt schwächlich, so sind diese beiden Jünglinge noch nicht ausgewachsen. Lasst sie ordentlich arbeiten und Ihr werdet sehen, zu welch kräftigen Männern sie reifen.“
Unverändert war der Conte nicht überzeugt. Irgendetwas schien ihn abzuhalten. War es am Ende der offensichtliche Zusammenhalt der Männer? Vermutete er Ungehorsam? Nun gut. Dann würde er sie anbieten. Vielleicht lockte ihn ihre Schönheit. Wenn sie nur nicht wieder so rebellierte…
„Nehmt Ihr alle sieben, so biete ich Euch dazu unsere Perle an“, offerierte Morel also weiter. „Sie ist eine waschechte neapolitanische Schönheit und sie stinkt keineswegs. Sie duftet eher nach Rosengeranien.“
Emanuele merkte auf. Seine leuchtend grünen Augen funkelten den Franzosen an. „Eine Schönheit aus Neapel? Ist sie jung? Lasst sehen…“
Morel grinste und schnippte mit den Fingern. „Los, bringt das Edelfräulein her!“
Einen Moment später hörte man eine resolute junge Frauenstimme, die lauthals Flüche und Schimpfworte ausstieß:
„Ihr verkommenen Hurensöhne! Mein Vater wird euch eure hässlichen Köpfe abschlagen und auf Spießen den Raben überlassen! Eure stinkenden Kadaver werden Neapels Gassenköter fressen, lasst ihr mich nicht sofort frei!“
Alle Umstehenden richteten ihren Blick gespannt in Richtung der Schimpfkanonade, denn das edle Fräulein war noch nicht zu sehen. Morel verdrehte die Augen und seufzte.

Ende Episode 9 Musik: ES_Let Go of Fear – Howard Harper Barnes
https://www.epidemicsound.com/track/eDE03Lys9O/

[1] Fluss, entspringt in den südlichen Westalpen und mündet in den Tànaro

[2] Vorläufer der Dogge, herrschaftlicher Großhund, im 16. Jhd. meist aus England oder Irland stammend